: Flucht aus Afghanistan
Das Flüchtlingselend lässt sich nicht durch Stacheldrahtzäune auf Afghanistan beschränken
von BERNARD IMHASLY
Wenn der afghanische Mitarbeiter eines Flüchtlingshilfswerks in Herat im westlichen Afghanistan einen Anruf an seine Zentrale in Islamabad machen muss, kann er einmal am Tag ins Büro des Provinzgouverneurs gehen und dort das Telefon benutzen. Er muss dann Dari, die Lokalsprache, sprechen, so dass der Taliban-Bewacher sicher sein kann, dass er keine Geheimnisse an die Amerikaner weitergibt.
Dass von einem Anruf das Leben tausender Menschen in den Flüchtlingslagern abhängt, mag dem Gouverneur von Herat – er hat den Ruf eines liberalen Taliban – bewusst sein. Mit seiner Geste kommt er den Hilfswerken bereits entgegen. In Afghanistan gibt es kein Satellitentelefon mehr, mit Ausnahme der Geräte der Taliban. Für den Gouverneur gilt das Dekret nicht, das internationale Anrufe mit Enthauptung bestraft.
Allein in Herat befinden sich 200.000 IDPs, UN-Jargon für internally displaced persons, Menschen auf der Flucht nach nirgendwo. Die Flüchtlinge, die sich in diesen Tagen auf eine der Landesgrenzen zubewegen, sind nur ein Teil der mehreren hunderttausend Menschen auf der Flucht. Die keinen Ausweis haben oder nicht das Geld für den Transport zur Grenze, steuern eines der 25 Flüchtlingslager an, die vor allem im Westen und Norden des Landes stehen. Oder sie gehen zum nächsten Verkehrsknotenpunkt, wo vielleicht noch ein Lagerhaus des Welternährungsprogramms steht. Oder sie kampieren, in letzter Verzweiflung, in einer Moschee und hoffen auf Allahs Eingreifen.
Was bewegt die Menschen zur Flucht? „In den meisten Fällen sind es extreme Armut und die Kriegsangst“, sagt der Entwicklungsexperte Henri-François Morand. Die Angst ist begründet. Nach der Ausweisung aller Ausländer und der Schließung der Grenzen ist absehbar, dass Nachschub und Verteilung von Nahrungsmitteln in einigen Wochen zum Erliegen kommen werden. Dann setzt auch der Winter ein. Falls der Krieg ausbricht, so die UNO-Sprecherin Stephanie Bunker, wird am Jahresende ein Viertel der Bevölkerung, rund 7,5 Millionen Menschen, nicht mehr aus eigener Kraft überleben.
Vorläufig stehen im Land noch Vorräte bis Anfang Oktober zur Verfügung. Doch bereits die Verteilung von Saatgut war in den letzten Monate erschwert worden. Das eigene Saatgut haben die Bauern längst gegessen und die Wintersaat konnte vielerorts nicht ausgebracht werden. Das World Food Programme (WFP) hat sich bereit erklärt, die Nahrungsmittellieferungen nach Afghanistan wieder aufzunehmen. Laut UNHCR lagern allein im benachbarten Pakistan 40.000 Tonnen Lebensmittel, weitere 165.000 Tonnen könnten importiert werden. Doch viele Spediteure weigern sich im Moment, Lastwagentransporte zu übernehmen. Die Angst vor bewaffneten Überfällen ist zu groß.
Die sich abzeichnende „humanitäre Krise unerhörten Ausmaßes“, vor der das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) warnt, lässt sich nicht mit Stacheldrahtzäunen auf Afghanistan begrenzen. Alle Nachbarländer haben ihre Grenzen dichtgemacht. Die Angst vor Flüchtlingen ist dabei nicht immer das einzige Motiv – man will auch verhindern, dass die Taliban als Flüchtlinge ins Land sickern. Dennoch machen sich die Behörden keine Illusionen. Bis jetzt sind die bessergestellten Städter geflohen, und die lassen sich leicht abfangen, da sie die Hauptstraßen benutzen. Aber je größer die Versorgungskrise im Land wird, desto eher werden Menschen auch Strapazen auf sich nehmen, um die Grenze zu überwinden.
Iran hat angekündigt, acht neue Flüchtlingslager zu errichten, und die pakistanische Regierung hat begonnen, zusammen mit dem UNHCR siebzig mögliche Lagerorte zu inspizieren, um auf eine Million neuer Flüchtlinge vorbereitet zu sein. Das Land hat bereits 1,2 Millionen Flüchtlinge in seinen Lagern und zahllose weitere, die irgendwo untergetaucht sind. Doch diesmal will Pakistan verhindern, dass sie das Heer ihrer eigenen Arbeitslosen und Armen noch vergrößern: Die Lager werden so unwirtlich sein, dass die Flüchtlinge möglichst rasch wieder zurück wollen. Sie sollen sich nicht außerhalb der Lagergrenze bewegen dürfen. „Das verletzt internationale Schutznormen“, sagt Alex Renton, der Vertreter von Oxfam. „Und es könnte schwierig sein, solche Orte überhaupt zu finden, denn es gibt sie nur dort, wo es kein Wasser gibt.“ Ein pakistanischer Regierungsbeamter verteidigt die Maßnahmen: „Wir sind bereit, unsere Bestimmungen zu lockern, wenn auch die reichen Länder Flüchtlinge aufnehmen.“
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