: Keiner heiratet die Witwe
Kabul im August 1996, kurz vor der Eroberung durch die Taliban: Der Fotograf und Journalist Fazal Sheikh reiste durch das kaputte Land seiner Vorväter. Die Stammesstruktur ist die Feindin der Politik
von BRIGITTE WERNEBURG
1994 schickten sich die Taliban an, die Herrschaft in Afghanistan zu übernehmen. Das machte damals in der Weltpresse noch Schlagzeilen. Doch in den darauffolgenden Jahren geriet das Land mehr und mehr aus dem Blick der Weltöffentlichkeit. Hilflosigkeit und Schuld – die Gotteskrieger erhielten Militärhilfe durch die Vereinigten Staaten – angesichts des moralischen Skandals der Taliban-Herrschaft, nicht zuletzt aber die scheinbar restlose Bedeutungslosigkeit von Afghanistan in Hinblick auf die zentralen Herausforderungen der globalisierten Welt brachten das große Schweigen über das Land am Hindukusch.
Unter diesen Umständen muss es als eine Tat des Schweizer Verlegers Walter Keller gelten, 1998 einen großen, aufwändig gestalteten Bildband über die Lage in Afghanistan veröffentlicht zu haben. Doch Fazal Sheikhs „The Victor Weeps“ erschien gleichzeitig mit Gilles Perres’ bestürzender Fotodokumentation über die Massengräber von Srebrenica. In der hauseigenen Konkurrenz zu Perres fand Sheikh damals eher bescheidenes Interesse. Heute freilich ist es aufschlussreich, auf den Band zurückzugreifen.
Statt der Bilder des afghanischen Fotografen und Journalisten wartet das Buch zunächst mit Zeichnungen afghanischer Kinder auf. Sie zeigen, wie ein Mann vor den Augen seiner Frau von einer Mine zerfetzt wird, oder wie ein Flüchtlingstreck dem Kriegsgeschehen zu entkommen sucht. Erst dann finden sich die großen Panoramaaufnahmen von Kabul im August 1996, kurz vor der Eroberung der Stadt durch die Taliban. Kabul scheint tatsächlich ein einziger Schutthaufen zu sein. Erst den folgenden Aufnahmen von den Restbeständen der städtischen Häuser gelingt es, die Leser davon überzeugen, dass hier Menschen leben können.
Fazal Sheikh, der 1965 in New York geboren wurde, fotografiert nicht nur, er schreibt auch über die Reise in das Land seiner Vorfahren und er lässt sich von den Menschen, die er aufnimmt, ihre Erlebnisse aus der sowjetischen Besatzungszeit und dem nachfolgenden Bürgerkrieg erzählen. Diese kurzen Texte neben den eindrucksvollen, oft bei künstlichem Licht aufgenommenen Porträts, die naive Erwartungen an orientalische Gesichter unter dem traditionellen Turban durchaus befriedigen, sind voll religiöser Inbrunst. Was dann auch zu erklären scheint, dass zunächst der einzige mörderische Feind der frommen und gottesfürchtigen Menschen die Kommunisten und sowjetischen Besatzer sind. Doch als neben die vielen Männer auch Frauen und Kinder vor die Kamera treten, berichten die Erzählungen jetzt auch davon, wie die Menschen zwischen die Frontlinien der Mudschaheddin gerieten und wie auch dort ethnische Säuberungen, Folter und Vergewaltigung an der Tagesordnung waren. Das Pathos liegt nun im Erstaunen und im Schock darüber, wie fromme Muslime sich so gotteslästerlich gebärden können.
Am aufschlussreichsten aber sind zwei Briefe, die der Band dokumentiert. Der eine stammt von den Ältesten des Distrikts Agra in der Provinz Logar und der andere stammt von einer Flüchtlingsfrau in Pakistan. Die Ältesten schrieben 1996 davon wie sie in reiner Clanformation gegen die Sowjets kämpften, für eine islamische Regierung nach dem Gesetz der Scharia. Die Taliban, so sagen sie, repräsentieren die letzte Hoffnung der Leute auf einen solchen Staat. „Wir haben unsere Stammestraditionen und unsere nationalen, islamischen Traditionen, mit denen wir unsere inneren Probleme lösen“, glauben sie. Doch es ist die Stammesstruktur, die die Feindin jeder Politik ist. 1998 beklagt die Flüchtlingsfrau in ihrem Brief, wie junge Mädchen auf den Märkten wie Vieh oder Sklaven verkauft werden; wie sie verschleppt und vergewaltigt werden; wie die Taliban in Kabul junge Frauen zur Heirat zwangen: „Aber keiner wollte eine Witwe heiraten, um ihr tragisches Schicksal zu ändern.“ „Lieber Bruder, lieber Vater und Sohn“, schreibt sie, „was ihr gebracht habt, ist Korruption, Blasphemie und Zerstörung.“
Fazal Sheikh: „The Victor Weeps – Afghanistan“. Scalo Verlag Zürich 1998, 250 Seiten, 44,90 Euro
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