: Kastanienfieber!
Eine Danksagung an die glänzenden, ungleichrunden Trösterinnen
Schon Anfang September geht das los. Die ersten Kastanien, noch unreif und in ihren grünen, stacheligen Hüllen steckend, fallen vom Baum. Kleine Kügelchen sind es zumeist, oft noch weiß oder braun-weiß gescheckt; zu Hause, auf dem Tisch oder in der Jackentasche dunkeln sie nach, werden gelb, orange, rotbräunlich, sehen fast aus wie Pralinen. In der Mitte, rund um die Maserung, sind sie am dunkelsten, am geheimnisvollsten. Ich kann mich an keinen Herbst erinnern, in dem sie mich nicht mit Faszination und Entzücken erfüllt hätten.
Kastanien sind das Glück, das man in die Hände nehmen kann. Ich sehe Ulrike Kowalsky vor mir, 1987, eine erwachsene Frau Mitte 30, die auf dem morgendlichen Weg zur Arbeit vom Radel springt und Kastanien aufsucht, sie in eine rote Umhängetasche hineinstopft, gierig, hektisch sich umdrehend, ob Kastanienkonkurrenz droht, und nicht eher Ruhe gibt, bis noch die letzte Kastanie in der mittlerweile kiloschweren Tasche versenkt ist. Die schönsten Exemplare wurden schon beim Einsammeln beiseite in die Jacke gesteckt und den Rest des Tages angestaunt, in die Hand genommen, stolz gezeigt und wieder und wieder angefasst.
In meinem Hinterhof steht ein hoher Kastanienbaum, der mich seit Wochen mit Freude beschenkt, und jeden Tag wird sie größer. Seit Tagen prasseln die Kastanien aus dem Baum; man kann sie hören, das kurbelt die Vorfreude an. Dann geht es treppab in den Hof, und da liegen sie, leuchten und wecken die Gier. Anfangs hat man Mühe, ein paar gescheite Hand voll Kastanien zu finden, jetzt schöpft man aus dem Vollen: lauter Kastanien, und alles meine!
Wenn das Auge seinen Spaß gehabt hat, kommt das Haptische zu seinem Recht: befummeln, ja, ja, ja! Man nimmt die ungleichrunden, glänzenden Boller in die Hand und dreht sie: prähistorische Meditationskugeln, mal gnubbelig, mal abgeplattet, was auch sehr fasziniert: Mit dem Daumen fährt man über die Kante einer flachen Zwillingskastanie. Es fühlt sich sensationell an. So kann die Kastanie weibliche Eifersucht auslösen. Frauen, die zu der betrüblichen Fehlsicht neigen, das Leben sei ein Beschwerdeformular, begneisen voller Argwohn die unschuldige Liebe zur Kastanie. Wie der Mann sie aufsammelt, wild und gierig alle, alle haben will, sie in der Küche wäscht, zart abtrocknet, sie liebevoll in der Wohnung verteilt, auf dem Tisch herumrollt, seinen wohlwollenden Blick auf ihnen ruhen lässt, sie wieder und wieder streichelt – all das tut mancher Frau weh. Sie wollte, sie wäre alle diese Kastanien, Ziel seiner Sehnsucht eben, und wenn die Frau nicht klug ist, tritt sie in Konkurrenz zur Kastanie und sagt: Sie oder ich. Das ist ein Fehler, da hat die Frau keine Schnitte.
Besser ist es, freundliche Distanz zu wahren, den Kastanienmann ölen zu lassen, wenn er in seinen Schätzen herumwühlt und die eigene Freude kaum fassen kann. Sie klingt ja ohnehin ab, leider, denn die Kastanie verliert recht zügig ihren magischen Glanz, wird oll, schrumpelig und etwas hohl, und nach ein paar Wochen ist das Fest vorbei. Ein knappes Jahr muss man dann warten bis zum nächsten Kastanienalarm und Kastanienfieber.
Zuverlässig Jahr für Jahr erfreut die Kastanie mein Herz. Und ist, in trostfernen Zeiten, stets eine kompetente Trösterin. Gern drehe ich ein paar Kastanien in den Händen, mache mir freundliche Gedanken und bestaune den Kokolores, den unsere Greise so von sich geben. Am 29. September beschwor Michael Rutschky die Gefahren des Antiamerikanismus; er selbst sei auf diesem Gebiet Experte, schrieb er, da er dem Antiamerikanismus selbst 24 Jahre lang anhing, von 1963 bis 1987. Es ist wenig Logik in dieser öffentlichen Reue: Wenn mir jemand eindringlich und recht glaubhaft versichert, dass er 24 Jahre lang ein Dummkopf war – wieso soll ich ihm Glauben schenken, wenn er beteuert, er sei jetzt aber ganz schlau? Und wenn Michael Rutschky Woche für Woche das Lied anstimmt, „Ich hatt’ einen Pappkameraden, einen besseren find’st du nicht“, dann ist das so fadenscheinig wie langweilig.
Ganz unlangweilig dagegen ist die Kastanie. Belohnt hat sie mich immer reichlich: Als Kinder sammelten wir sie zentnerweise, brachten sie zum Tierpark, teilten 40 Mark durch fünf und fühlten uns wie Könige. Doch nun soll es gut sein mit diesem Text: Ich muss dringend ein paar schöne Kastanien befummeln gehen. WIGLAF DROSTE
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