piwik no script img

Lebensmittelpunkt Straße

Die Straßenkinder vom Alexanderplatz flüchten vor Misshandlungen und träumen von Normalität. Viele schlafen zwar noch zu Hause, verbringen aber den Tag auf dem Platz. Sozialarbeiter halten diese Überangepassten für das eigentliche Problem

von KATRIN CHOLOTTA

Berlin Alexanderplatz: Glattgebügelte Anzüge hetzen zielstrebig über den grauen Asphalt in ihr Büro, Großmütter warten vor den noch verschlossenen Kaufhaustüren und Naturschutzverbände bauen ihre Stände auf, um heute doppelt so viele Unterschriften zu sammeln. Nur sie haben nicht wirklich ein Ziel: Straßenkinder, Punks, jugendliche Aussteiger. Unauffällig und leicht zu ignorieren. Auffällig und nervig, wenn sie um ein Kleingeld betteln, ihre Hunde zu laut kläffen oder sie sich im Rausch des Alkohols gegenseitig anbrüllen. Die Jüngsten sind 11, viele 16 Jahre oder älter und kaum einer will dahin zurück, wo er herkommt.

Steffen Trebke* ist einer von rund 3.000 Asphaltkindern, die in Berlin leben. Eine genaue Zahl gebe es nicht, sagt Rita Hermanns, Sprecherin der Jugendverwaltung, „schließlich ist noch keiner durch die Straßen gegangen und hat gezählt“. Außerdem seien die Kinder alle noch bei ihren Eltern gemeldet. Das ist auch Steffen, aber „die wollen sowieso nichts mehr mit mir zu tun haben. Wollten die noch nie.“ Mit 15 ist er von zu Hause weg. Hat es einfach nicht mehr ausgehalten. Sein Geld verdient er sich durch „Schnorren“ oder kleinere Diebstähle. Schule abgebrochen, kein Bock auf gar nichts und auf Bewährung draußen. Zum Frühstück ein Bier oder wenn das Geld reicht „eine gute Mischung aus Speed und Kokain: damit komme ich zwei Nächte ohne Schlaf aus“, sagt Steffen. Fast klingt es ein wenig stolz.

Eine wirkliche Bleibe hat der heute 17-Jährige nicht. Einer seiner Kumpels hat neulich eine leerstehende Wohnung aufgebrochen, „da lässt es sich aushalten“. Es gibt zwar weder Strom, noch Möbel, Wasser oder Heizung, „aber eben ein Dach über dem Kopf und keine Sozialarbeiter“. Zu denen geht er nur, wenn das Geld nicht fürs Essen reicht. „Für ‘ne Suppe laber ich ein bisschen und verschwinde dann wieder“, sagt Steffen etwas trostlos, „die machen doch auch nur ihren Job, die interessiert doch der ganze Scheiß nicht wirklich.“

Die Einsamkeit und Verzweiflung der Straßenkinder führe fast immer zu massivem Drogenkonsum, berichtet Jörg Richard, Geschäftsführer von „Karuna“. Dieser Verein bietet seit elf Jahren Hilfe für suchtgefährdete sowie suchtkranke Kinder und Jugendliche. Die meisten, mit denen Karuna Kontakt hält, „haben eine Biografie, die schlimmer nicht sein kann“, sagt Richard. Sexueller Missbrauch, Beziehungslosigkeit, Misshandlungen, Demütigungen, Eltern, die selbst drogenabhängig sind, Verwahrlosung, nicht geliebt werden. Die Liste ist so endlos wie erschreckend. Die Vergangenheit trostlos wie die Zukunft.

Berlin und besonders der Alexanderplatz wirken für viele wie ein Magnet der Hoffnung. „Da treffen die Kids viele Menschen, da ist was los, dort sind sie in der Anonymität der Großstadt aufgehoben“, erklärt Richard. „Da gibt es vor allem die Chance, die eine oder andere Mark zu ergattern“. Doch die wirkliche Flucht aus der Einsamkeit ist und bleibt die Droge. „Die Gruppen geben nicht wirklich Halt, da die Jugendlichen zwar häufig ein ähnliches Schicksal teilen, aber sonst kaum etwas für den gegenseitigen Austausch vorhanden ist“, resümiert Richard. Er kennt niemanden, der es aus eigener Kraft aus dem drogenkonsumierenden Straßenmilieu geschafft hat: „Selbst wenn einer den Willen hat, mit Drogen aufzuhören, wird er von seinem Kumpel eingeladen und der Kreislauf beginnt von vorn.“

Zudem hätten viele der Straßenkinder weder eine Zukunftsvorstellung noch einen klaren Tagesablauf und bräuchten deshalb intensive Betreuung. Doch dafür gibt es immer weniger Geld, klagt Richard: „Jugendämter wachen oft erst auf, wenn jemand im Krankenhaus entgiftet wurde, den man von der Straße gelesen hat“. Besonders „kontraproduktiv“ sei die sogenannte ambulante Betreuung, bei der verschiedene Träger der freien Jugendhilfe den Kindern eine eigene Wohnung und zwölf Stunden persönliche Unterstützung pro Woche bieten. Das geringe Maß sei „einfach lächerlich, eben weil wir uns alle fünf Monate auf dem Friedhof treffen“, so der Karuna-Geschäftsführer. Eine Folge des gestörten Planungsverhaltens und der nie entwickelten Verantwortung der Jugendlichen seien Drogenpartys, die häufig mit Überdosen enden. Verwahrloste Babys junger Mütter schlafen derweil im Raum nebenan.

Karuna bietet deshalb unter anderem das Wohnprojekt „Zwischenland“. Hier können Jugendliche für drei Monate ausprobieren, drogenfrei zu leben. Dabei werden sie von einem interdisziplinären Team von MitarbeiterInnen rund um die Uhr betreut.

Es sind jedoch nicht nur die „klassischen Fälle“, deren Träume auf dem Asphalt im Rausch der Drogen gelebt werden. Die auffälligen, die Punks mit den bunten Haaren, die auf Demos gehen oder einfach nur demonstrativ anders leben, scheinen Jörg Richard fast lieber. „Die wollen uns wenigstens noch sagen: so geht das nicht“, konstatiert der 38-Jährige. Das wirkliche Problem seien die unauffälligen, die überangepasst leben, den Tag auf dem Alexanderplatz verbringen, nachts aber wie im Hotel zu Hause schlafen. „Die werden immer mehr“. Ihre Verzweiflung ist nicht sichtbar. Sie verletzen sich selbst mit Messern, um seelischen durch körperlichen Schmerz zu betäuben. „Schnippelkinder“, wie Jörg Richard sie nennt, „sagen nur: Es hat sowieso keinen Sinn mehr“.

*Name geändert

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen