: Zustimmung, kein Kriegsgeschrei
Die amerikanische Öffentlichkeit unterstützt grundsätzlich die Angriffe auf die Taliban. Zugleich wächst die Sorge vor einer Eskalation
Aus Kasson/West VirginiaANDREAS ZUMACH
„Amerika ist zu fett geworden, nur noch interessiert an materiellen Dingen. Wir haben alle irdischen Güter im Überfluss. Doch unsere Seelen sind leer.“ Die Worte, mit denen Pfarrer Gary Wetzer am Sonntagmittag in der Shiloh Church of the Brethren von Kasson, einem frommen, idyllisch gelegenen Bergdorf in West Virginia, seine Predigt beendet, hätten auch von einem islamischen Kritiker der USA stammen können.
Die rund 30 Gottesdienstbesucher stehen danach noch zum Nachgespräch beisammen, als der Pfarrer über sein Handy die Meldung über den Beginn der Militärschläge gegen Afghanistan erhält. Die ersten Reaktionen schwanken zwischen Ablehnung, Angst vor neuen Terrorakten, Ratlosigkeit und der vorsichtigen Befürwortung einer „ gerechten Strafe“ für die Anschläge vom 11. September. Doch nichts ist zu spüren von dem Jubel und der patriotischen Begeisterung, die wenige Minuten später via CNN und andere Fernsehsender aus dem Footballstadion von Atlanta auch in die Wohnstuben von Kasson übertragen werden.
Die Bilder aus Atlanta, wo die Besucher des Footballspieles gegen die Chicago Bears mit begeisterten „USA! USA!“-Rufen reagieren, als der Stadionsprecher den Beginn der Luftangriffe auf Afghanistan verkündet, bleiben an diesem Sonntag die Ausnahme. Auch wenn laut einer von CNN verbreiteten Blitzumfrage – über deren genaue Formulierung, Zahl der Befragten etc. nichts bekannt wird – „94 Prozent aller US-BürgerInnen die Luftangriffe unterstützen“. Selbst bei Straßeninterviews unter den Anwohnern des ehemaligen World Trade Centers sowie den Touristen, die am Sonntag die Trümmerlandschaft in Süd-Manhattan besichtigen, überwiegen bei aller grundsätzlichen Zustimmung zu militärischen Maßnahmen die Sorge vor einer Eskalation und Appelle an die eigene Regierung, Opfer unter der Zivilbevölkerung Afghanistans zu vermeiden.
Nördlich der Trümmerlandschaft, am Union Square, demonstrieren zwei Stunden nach Beginn der Luftangriffe rund 10.000 Menschen unter „Peace! Salam! Shalom!“-Rufen gegen „militärische Vergeltungsschläge“ und für die Bestrafung der Verantwortlichen für die Terrorakte durch ein internationales Gericht.
An der bereits vor über einer Woche angemeldeten Demonstration – der ersten, die von den New Yorker Sicherheitsbehörden seit dem 11. September genehmigt wurde – beteiligen sich unter dem Motto „Nicht in unserem Namen“ neben zwei Friedensnobelpreisträgern auch zahlreiche Angehörige von Opfern des Anschlages auf das World Trade Center.
Reuben Fernandez, dessen Enkel in den Trümmern des WTC getötet wurde, wendet sich auf der Abschlusskundgebung im Central Park mit folgenden Worten an Präsident Bush: „Ihre Antwort auf die Terrorakte bringt uns keine Erleichterung. Wir haben das Gefühl, unsere Regierung missbraucht das Andenken an unsere Söhne zur Rechtfertigung für die Bestrafung anderer Länder und um anderswo Söhnen Leid zuzufügen.“
In San Francisco und anderen Städten kommt es nach Beginn der Luftangriffe zu kleineren, spontanen Kundgebungen. Die Friedensdemonstrationen und Protestaktionen werden von den Fernsehsendern – anders als noch am vorletzten Wochenende – fast völlig verschwiegen. Unter dem einheitlichen Titel „America strikes back“ betreiben CNN, FOX, CBS, NBC und ABC nach Beginn der von ihnen seit Wochen herbeiinszenierten Militäraktion eine Berichterstattung, in der grundsätzliche Kritik keinen Platz mehr hat. Lediglich Unbehagen über die „noch rigidere Medienzensur als im Golfkrieg“ bewegt einige Gemüter.
Zur Rechtfertigung bisheriger und kommender Manipulationen zitiert John Chancellor, journalistisches Urgestein aus den Tagen von Vietnamkrieg und Watergate-Affäre, zum Ende des ersten Kriegstages Churchills Äußerung, wonach die Wahrheit zwar „heilig“ sei, „sich in Zeiten des Krieges aber mit einer Leibgarde aus Lügen umgeben“ müsse.
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