: Jenseits des Traumlands
Die Verlierer von gestern können morgen die Sieger sein. Wolfgang Schivelbusch entdeckt die „Kultur der Niederlage“
Sieger, sagte Heiner Müller in den Neunzigern, sind natürlich dumm. Denn wer sich als historischer Sieger fühlt, macht meist so weiter wie bisher. Das ist plausibel, da der Sieg sich ja der Überlegenheit der eigenen Kultur verdankt. Die Geschlagenen hingegen sind zur Veränderung gezwungen. Wer verliert, gewinnt die Erfahrung eines radikalen Bruchs. Das ist die Dialektik von Sieg und Niederlage.
Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Schivelbusch, dem wir kluge Untersuchungen über die Geschichte der Eisenbahnreise und die der Genussmittel verdanken, hat versucht, die Mechanismen darzustellen, mit denen Nationen Niederlagen verarbeiten: im US-amerikanischen Süden 1865, in Frankreich nach der Niederlage gegen Preußen 1871 und in Deutschland nach 1918. Die Auswahl leuchtet ein, weil diese Kriege modern waren. Anders als die Kabinettskriege des 18. Jahrhunderts waren sie „totale“ Kriege, die ohne fanatisierte Massen, ohne „Heimatfront“, nicht vorstellbar waren.
Schivelbusch bemerkt, dass im Moment der Niederlage etwas Merkwürdiges geschieht: Alle Siegesgewissheit ist verdampft, doch anstelle der Depression folgt eine kurze Euphorie, „ein Übertönen des Zusammenbruchs durch den Sturz der Väter“. 1870 rief das Pariser Volk, zwei Tage nach Sedan, die Republik aus, 1918 geschah das Gleiche in Berlin und München. Die Schuldfrage schien damit geklärt. Es war das alte, korrupte Regime, das nun, dank der militärischen Niederlage, endlich gestürzt werden kann. „Traumland“ nannte Ernst Troeltsch diese Periode 1918/19: Sie scheint bestimmt von der Phantasie, dass das Debakel der Niederlage eigentlich ein Sieg war. Dazu gehört auch, in Berlin 1918 und Paris 1870, die so genannte „Tanzwut“. Im Tanz manifestierte sich die Befreiung von der Todesdrohung des Krieges und der Triumph über die gestürzten Väter. Den Sieger halluziniert man sich in der Traumlandphase als jemand, dem man gleichberechtigt gegenübertritt. Ist diese Illusion geplatzt – schließlich ist der Sieger doch der Feind, der Elsass-Lothringen annektiert oder Reparationen fordert –, folgt die Legende, mit der sich die Gesellschaft das Trauma der Niederlage selbst erklärt. „The lost cause“ war nach 1865 die Phantasie, dass der aristokratische Süden dem puritanischen Norden auf ewig zivilisatorisch überlegen bleiben würde. In Frankreich blühte nach 1871 der Mythos der „Revanche“. Das Rolandlied und Jeanne d’Arc kamen in Mode: als Inbegriffe des ewigen, unbesiegbaren Frankreich.
Schivelbusch liest die Legenden von „la revanche“ und „lost cause“ als Rationalisierungen, als durchaus im psychoanalytischen Sinne verstandene Ersatzhandlungen, die darüber hinwegtrösten, dass das Eigentliche, die Rache, unmöglich ist. Neben diese zu Überlegenheitsgesten sublimierten Rachephantasien tritt der Drang, vom Sieger zu lernen. Frankreich und Deutschland imitierten im 19. Jahrhundert gegenseitig ihr Schulsystem. 1870 entdeckte Frankreich die preußische Volksschule als kriegswichtiges Vorbild: Mit Offizieren, die Analphabeten sind, gewinnt man keinen Krieg. Auch die Wertschätzung der Nazis für Propaganda kann man als Lerneffekt begreifen. Wenn man 1918 wirklich „im Felde unbesiegt“ gewesen war, dann lag die Stärke der Alliierten in ihrer Fähigkeit zur Massenmanipulation. Deshalb die alle Ideologie ignorierende Neigung der Nazis, US-Methoden der Massenbeeinflussung zu übernehmen. Auch der Volkswagen war ein Imitat des schon in der Weimarer Republik schwärmerisch bewunderten am Fließband produzierten Ford.
Schivelbuschs Text ist brillant, wo er leichthändig solche verborgenen Spiegelungen bloßlegt. Man kann ihn als (recht langen) Essay lesen – als historische Analyse ist er indes zu assoziativ und methodisch zu ungenau. Schivelbusch legt quasi das nationale Bewusstsein und das kollektive Unbewusste auf die Couch. „Was auf der individualpsychologischen Ebene die Neurose, das ist auf der kollektiven die Mythenbildung“, schreibt er. Wirklich? Haben Kollektive Ödipuskomplexe? Braucht der Vergleich von Gruppe und Individuum nicht mindestens eine Begründung und, vor allem, eine differenzierende Übersetzung? Schivelbusch setzt jedenfalls Gleichheitszeichen, wo Fragezeichen hingehören. Auch deshalb klingen seine Thesen durchweg flott – und sind ziemlich gewagt. Dabei ist schwer zu sortieren, was bloß geistreich, was wesentlich ist. Im Ungefähren bleibt auch, ob der Text allgemein gültige historische Deutung sein will (dafür fehlt die Sozialgeschichte) oder eher scharfsinnige Betrachtung der Bilder und Metaphern, die eine Gesellschaft von sich selbst entwirft. Kurzum: Man bestaunt die Kenntnisse des Autors, seine Fähigkeit, im Sauseschritt die Genres zu durchqueren – auch wenn die Fakten manchmal wie Eisenspäne scheinen, die von den Magneten, den Thesen, bewegt werden.
„Die Kultur der Niederlage“ veranschaulicht, dass industrielle Massengesellschaften auch im Krieg wie kommunizierende Röhren funktionierten. Was bedeutet das für die Gegenwart? Seit fünfzig Jahren gibt es zwischen westlichen Staaten keine Kriege mehr. Der Lernschub, den früher Niederlagen hervorbrachten, wächst heutzutage, so die optimistische Lesart, im Spiel der ökonomischen Konkurrenz. Die Kriege finden in der so genannten Dritten Welt statt, in der Form amorpher, ausgefranster, wuchernder Bürgerkriege, die durch keinen Friedensschluss mehr begrenzt zu werden scheinen. Militärische Auseinandersetzungen führt der Westen mit Staaten (neuerdings nicht mal mehr das), die technologisch, logistisch und kulturell in einer anderen Liga spielen. Was kann man von Bombern, die aus fünftausend Meter Höhe Raketen abfeuern, lernen? Gibt es in diesen neuen Kriegen den „Krieg als Lehrmeister“ noch?
STEFAN REINECKE
Wolfgang Schivelbusch: „Die Kultur der Niederlage“. Fest Verlag, Berlin 2001, 464 Seiten, 69,34 DM (39,50 €)
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