: Schilys schwarze Utopie
Der Bundesinnenminister beharrt darauf, unsere widersprüchlichen Bedürfnisse nach Frieden und Sicherheit ausbalancieren zu können. Andere sind da ehrlicher
Innere Sicherheit ist nicht Alles, aber ohne Innere Sicherheit ist Alles nichts. Darf man das bekannte Wort Willy Brandts zum Stellenwert des Friedens abwandeln? Ja und Nein.
Ja, wenn wir von einem umfassenden Sicherheitsbegriff sprechen, wie auch Brandt von einem umfassenden Friedensbegriff gesprochen hatte. So verstandene Sicherheit schließt den Erhalt der natürlichen Lebensbedingungen genauso ein wie die Möglichkeit einer vernünftigen Lebensplanung im Rahmen gesicherter sozialer Verhältnisse. Der Gegenbegriff hierzu wäre Anomie, Gesetzlosigkeit, allgegenwärtige Unsicherheit der Lebens.
Nein, wenn wir Sicherheit definieren als möglichst umfassenden Schutz der Bürger vor den Gefahren, die ihm von seiten der Gesetzesbrecher drohen. Denn je lückenloser dieser Schutz sich darstellt, desto mehr gerät in Gefahr, was das Grundgesetz als wichtigstes Grundrecht im seinem ersten Artikel statuiert: Freiheit und Würde.
Otto Schily sieht die Sache anders: das Monopol des Staates auf legitime Zwangsausübung sei die größte Errungenschaft der neuzeitlichen Zivilisation. Ohne Sicherheit, so fuhr er fort, gebe es keine Freiheit. Diese Ansicht von Schily ist nicht neu, nicht die Konsequenz seines Staatsamts. Er hat sie schon zu Beginn der 80er Jahre vertreten, anlässlich der damaligen Debatte über die RAF und über die Grenzen des zivilen Ungehorsams. Schily ist kein Opportunist, aber das macht seine Ansichten nicht richtiger.
Im Kern geht es um eine autoritäre Interpretation der Erwartungen, die die Bürger bezüglich des Rechtsstaats hegen. Schily ist der Auffassung, dass Angst das treibende Motiv ist. Aus Angst vor dem wilden Ungeheuer Behemoth flieht der Geängstigte in die Arme des strengen, übermächtigen Leviathan. An meinem Kindbett, schreibt Thomas Hobbes, standen zwei Gevatterinnen: die leibhaftige Mutter und die Angst. Voilá.
Nur diese Haltung bringt Schily dazu, aus dem Grundgesetz ein „Grundrecht auf Sicherheit“ zu destillieren. Unsere Verfassung kennt zahlreiche Bestimmungen, die den Staat zum Schutz des Bürgers verpflichten. Aber auf ein Sicherheits-Grundrecht haben die Verfassungsväter weislich verzichtet. Denn es beinhaltet vor allem eine Ermächtigung an den Staat, nicht aber eine Ermächtigung der Bürger. Wie sollten sie ein solches Recht auch einklagen können? Mit einem Wort: Schilys Vorstellung vom Rechtsstaat sieht den Bürger als angstvollen, passiven nackten, bedürftigen Empfänger staatlichen Schutzes. Der Rechtsstaat fungiert nicht als Produkt wie als Garant einer selbstbewussten Bürgergesellschaft. Er ist statisch, vorgegeben, wie das staatliche Gewaltmonopol, das doch in einer zunehmend zivilisierten Gesellschaft seine Allzuständigkeit verlieren und nichtstaatlichen Formen der Konfliktaustragung weichen sollte. Schilys Weltbild ist paternalistisch, er selbst zeigt sich von Fernsehauftritt zu Fernsehauftritt mehr als Autoritärer, der die Uneinsichtigen belehrt und den Unbotmässigen Schweigen gebietet.
Ein Blick auf die bundesdeutsche Geschichte zeigt, dass die großen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit bis hin zu der gegenwärtigen für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung stets den weiten Sicherheitsbegriff im Auge gehabt haben, ein universalistisch eingefärbtes Konzept, das das Überleben der Gattung gewährleisten sollte. Dabei sind diese Bewegungen häufig genug mit dem engen, polizeilichen Sicherheitsbegriff in Konflikt geraten.
Natürlich hatten diejenigen, die gegen die Nachrüstung oder die AKWs kämpften, auch ihre ganz persönlichen Ängste. Wer aber damals sagte, er ängstige sich nur vor Raketen oder AKWs auf dem eigenen katastrophenschwangeren deutschen Boden, der musste mit entschiedenem Widerspruch rechnen. Die persönlichen Ängste waren doch aufgehoben in einer reichen Vorstellung von universeller Befriedung. Gleichzeitig haben die sozialen Bewegungen, sei es bewußt, sei es als faktisches Resultat ihrer Anstrengungen, auch die Freiheitsgrundrechte in die Alltagspraxis übersetzt und damit materialisiert. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten folgte diesen Kämpfen und ging ihnen nicht voraus.
Auch Schilys Überlegungen zur Sicherheit haben sich als ausdehnungsfähig, als globalisierbar erwiesen, allerdings in einer die Freiheit nicht gerade bereichernden Weise. Aus der Internationalität der Terrornetze folgert er, Aspekte der inneren und äußeren Sicherheit gingen immer mehr ineinander über. Deswegen müsse sich polizeiliche Antiterror-Arbeit internationalisieren.
Aber in einer überraschenden Volte folgert der Bundesinnenminister darüber hinaus, dass die Bundeswehr auch umgekehrt für die Zwecke der inneren Sicherheit eingesetzt werden muss. Für dieses Unternehmen haben Schilys Mitkämpfer von der CSU bereits einen Entwurf samt Abänderung des Grundgesetzes bereitgestellt.
Da die inneren und äußeren Gefahrenzonen verschwimmen, ist es jetzt mehr als recht und billig, wenn gemäß den Überlegungen des Innenministeriums jetzt auch Abschiebungen von asylsuchenden Ausländern bei dem bloßen Verdacht auf Schwerkriminalität erfolgen können – gegen den Wortlaut der Genfer Flüchtlingskonvention. Wenn ferner polizeiliche und geheimdienstliche Datensammlungen auf Dauer und ohne Kennzeichnung zusammengeschlossen werden, ganz so, als ob an geheimdienstliche Informationen die gleiche rechtsstaatliche Elle angelegt werden kann wie an solche der Strafverfolgungsbehörden. Und wenn über jeden, der einen Bürger aus arabischen Ländern einlädt, einen Akte angelegt und wenn jedem Bürger dieser Länder, der ein Visum begehrt, ein Fingerabdruck abverlangt wird. Also ein Verfahren summarischer Verdächtigung.
Der 11. September 2001 sei keine gute Nachricht für die Verteidiger der Grundrechte in den westlichen Ländern gewesen, meinte kürzlich der Militärtheoretiker Martin van Creveld. Aber man müsse eben wählen: effektiver Kampf gegen den Terror oder ungeschmälerte Grundrechte. Van Creveld stellt uns vor eine unannehmbare Alternative, aber er redet wenigstens Klartext. Was man von Otto Schily nicht behaupten kann. Denn der beharrt darauf, Freiheit und Sicherheit sorgfältig auszubalancieren.
Längst dient seine „Balance“ nur noch dazu, eine angeblich den Sachnotwendigkeiten geschuldete politisch abschüssige Bahn zu kaschieren, die konsequent verfolgt in den Sicherheitsstaat führt. In jene hellen Gefilde des Sonnenstaates, wo alles durchleuchtet, alles geregelt ist -– ins Reich der schwarzen Utopie. CHRISTIAN SEMLER
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