: Die Welt zerfällt in Pixel
Kopflose Tänzer, entrückt: „Nichts“ von Toula Limnaios im Theater am Halleschen Ufer
Es nichtet gewaltig im Theater am Halleschen Ufer, wenn die Choreografin Toula Limnaios in die Gründe des Seins hinabsteigt. Nichts sehen und ohne Worte bleiben: Mit verklebten Augen und Mund kommt eine Tänzerin und reißt sich mit beiden Händen den Kopf fast ab. Ihre langen Beine setzen an zum sicheren Schritt und knicken dann ein. Etwas schiebt sich von hinten ins Bild, Arme, Beine, alles dran, nur an der Stelle des Kopfes zittert ein blauer Ballon. Auf der Videowand im Hintergrund haben wir derweil die Befruchtung einer Eizelle.
Anfang und Ende, drunter geht es wohl nicht, wenn sich Toula Limnaios auf ihre Recherchen darüber begibt, wo die Wahrnehmungen des Menschen von sich selbst ihren Ausgang nehmen. Der Titel des Stücks „Nichts. Ich werde da sein, indem ich nicht da bin“ zitiert Becketts „Texte um Nichts“ von 1955. Da streift ein Erzähler alles von sich ab, was ihm außerhalb seiner selbst Halt geben könnte. „Ich mache Fortschritte, es wurde Zeit, eine Geschichte ist nicht unerlässlich, nur ein Leben (. . .) Atmen, mehr wird nicht verlangt.“
Mit dem Rauschen des Windes, der wie der Atem der ganzen Welt klingt, beginnt und endet das suggestive Sounddesign, das Ralf R. Ollertz für Limnaios komponiert hat. Der Klang spült uns in eine von Maschinen beherrschte Gegenwart. Wieder fühlt man sich bloß wie ein winziges Partikelchen, das im Inneren eines Großrechners verloren gegangen ist. Das Videozuspiel der Gruppe cyan untermalt diesen Griff nach dem Ganzen. Das Zeitalter der industriellen Produktion zischt an uns vorüber. Man wird davon ganz blöd und senkt die Augen dankbar hinab auf die Körper der Tanzenden. Bis wieder eine hinausgeschleudert wird und mit Klappmesserschärfe zu agieren beginnt. Das Stück ist erklärbar und dennoch nicht befriedigend. Zwischen surrealen Bildern bleiben andere Sequenzen Füllstoff. Die Poesie der entrückten Stimmungen, von denen die bisherigen Arbeiten der aus Athen stammenden Choreografin erfüllt waren, ist allerdings wiederzufinden.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Bis 14., 17.–21. 10., 20 Uhr, im Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg
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