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Selbst gestrickte Wolle

Der 19-jährige Tim Mergelsberg besucht die dreizehnte Klasse der Freien Waldorfschule in Villingen-Schwenningen. Ein Erfahrungsbericht

von TIM MERGELSBERG

„Waaaas?!?! Du bist Waldi und trägst keine selbst gestrickte Wollunterwäsche?“ Verwirrt starren mich die blauen Augen durch die Hornbrille an. Unverständlich scheint für viele, dass sie die so einfach zusammengesetzte Vorstellung einer Waldorfschule verwerfen müssen, wenn sie diese näher betrachten.

Müsliesser, Baumschule, Spinner. Irgendwie weiß jeder was über die Waldorfschule. Doch wenn man mal einen Blick in die verschleierte Welt der sanften Pädagogen wirft, werden einige Dinge klarer. Auch wir Waldorfschüler wissen oft nicht, wieso dieses oder jenes eigentlich bei uns anders ist. Nur selten verstehen Waldorfschüler die Besonderheiten ihrer Schule. Wir erleben diese einfach. Tagtäglich. Schwungvoll schüttelt der Lehrer mir die Hand. „Guten Morgen“, strahlt er mich an, obwohl er schon 260 andere Schüler heute morgen begrüßte. Dank Waldorf-Architektur muss ich die Kurve hinter der Eingangstür nicht zu scharf nehmen, rechte Winkel werden hier möglichst vermieden. Die frisch lasierten Wände leuchten mir warm entgegen: Während das typische Waldorfrosa eher an die Außenfassade verbannt wurde, sehe ich hier Grün, Orangerot und warmes Gelb an den Wänden.

Zum Unterricht komme ich natürlich zu spät. Konzentriert sitzen die Klassenkameraden da und denken nach. Vor der Berechnung der e-Funktionen sollen wir erst mal unser Hirn hochfahren. Kopfrechnen ist also angesagt – in der 13. Klasse. Der Lernweg sei hier anders, erzählen uns die Lehrer oft nicht ohne Stolz. „Verstehen sollt ihr das, nicht auswendig lernen!“ Doch auch daran kommen wir nicht ganz vorbei. Besonders in der Prüfungsvorbereitung haben wir oft härter zu arbeiten. Zum einen sind da die Behörden. Als glaubten sie nicht an das pädagogische Konzept der „Waldis“, wird einem das Prüfungsleben schwer gemacht. Aber auch der Stoff ist anders verteilt. Das heißt nicht, dass man in der Waldorfschule nichts lernt, man lernt eher mehr. So kommen in der 12. Klasse zum normalen Schulstoff meist eine einjährige Abschlussarbeit, Kunstabschluss, Theateraufführung, Eurythmieabschluss hinzu. Wir Waldorfschüler werden vielfältig auf unser Leben vorbereitet. „So viel Extrakram kann man sich doch nicht leisten, wir müssen uns doch auf die Prüfung vorbereiten“, denken viele. Wer dann aber gelernt hat, selbstsicher auf der Bühne zu stehen, eine Arbeit eigenständig zu erarbeiten oder seine Kreativität zu entfalten, der dankt es dann oftmals seiner Schule. Aber ganz so problemlos ist auch die sanfte Welt der Waldis nicht. Während einige Schulen noch sehr „versteinert“ sind, erinnern andere schlicht an eine (gute) Alternative an das Gymnasium. Aber hier wiederum haben Eltern, Schüler und Lehrer die Möglichkeit, anzusetzen: Als selbstverwaltete freie Schule kann sich austoben, wer will: Über Engagement freut sich jede Schule.

Mein persönliches Resümee aus beinahe 13 Jahren Waldorfschule: die richtige Schule mit den richtigen Ansätzen, die leider oft nicht richtig funktionieren. Gerade in der Zeit, in der die Politik häufig mit der Bildung falsch umgeht, haben Waldorfschulen die Chance, zu überzeugen. Und es besser zu machen.

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