Dunkle Kneipen nah am Fluss

Lass die Wahrheit nicht einer guten Geschichte in die Quere kommen: Diesem irischen Sprichwort folgt Sean McGuffin in seinem neuen Buch. Es heißt „Last Orders“ und dreht sich um Suff und Politik

Der einzige Revolutionär, der einen Langen Marsch im Sitzen zurücklegte

von RALF SOTSCHECK

Sean McGuffin ist wieder in Nordirland. So weit die schlechte Nachricht. Die gute: Er hat sich in den 19 Jahren USA kein bisschen verändert, außer dass er nun einen Cowboyhut trägt. Sein Lieblingswort ist immer noch „Wichser“, und im Nachwort zu seinem neuen Buch „Last Orders“ zitiert sein Übersetzer Jürgen Schneider aus einem Gespräch mit McGuffin: „Ich hasse den bloßen Namen England. Ich habe ihn vor meinem Exil in San Francisco gehasst und werde ihn immer hassen. Hasta la victoria siempre! Rückwärts nimmer, Revolution immer!“

Ja, McGuffin ist zurück und stellt seine „Dispatches“ ins Netz, in denen er sämtliche Ereignisse Nordirlands kommentiert und bisweilen auch das Weltgeschehen. Nebenbei schreibt er Geschichten, die in seinem neuen Buch versammelt sind. Sie sind skurril, sie sind verrückt, sie bestehen aus einem sprachlichen Feuerwerk, das nur gelegentlich über das Ziel hinausschießt. Das Wortspiel mit der irischen Fluglinie Aer Lingus, die bei McGuffin zu Aer CunniLingus wird, ist uralt. Aber das ist McGuffin auch, und so ist er vielleicht wirklich der Urheber dieses Kalauers. Die Quelle für viele seiner Geschichten ist sein Freund Brian McArthur, die Themen sind diejenigen, die man von McGuffin kennt: Suff oder nordirische Politik, meistens zusammengemischt.

Die nordirische Bürgerrechtlerin Bernadette Devlin McAliskey schreibt in ihrem Vorwort entsetzt: „Unmittelbar nach der Nachricht vom programmierten Frieden und der Rückkehr der Exilierten verbreitete sich das Gerücht wie Margarine auf den Juli-Sandwiches – McGuffin ist zurück!“ Die Gründe, warum McAliskey das Vorwort geschrieben hat, will sie nicht nennen. Jedenfalls kennt sie McGuffin seit mehreren Jahrzehnten.

In ihren Anfang der Siebzigerjahre erschienenen Memoiren berichtete sie, wie McGuffin zum legendären Bürgerrechtsmarsch von Belfast nach Derry 1969 mit einer gigantischen Anarchisten-Fahne anrückte: „Die anarchistische Fahne war lustig – ein riesengroßes Banner in Rot und Schwarz. Allerdings war nur ein einziger Anarchist unter uns: der dicke, fette John McGuffin, der fast so breit war wie das Banner, das er unbedingt tragen wollte.“ Nach ein paar hundert Metern machte er jedoch schlapp, stieg in den Lautsprecherwagen und ging als einziger Revolutionär in die Geschichte ein, der einen Langen Marsch nahezu komplett im Sitzen zurückgelegt hatte.

Später wurde McGuffin Vorsitzender der Lumberjacks, einer „schattenhaften Widerstandsgruppe“ (Seite 158), in Wirklichkeit einer Vereinigung von Suffpatrioten, und arbeitete hauptberuflich als Dozent an einem Belfaster College. Nebenbei widmete er sich der Sachliteratur. Nachdem er 1971 von der britischen Armee für kurze Zeit interniert worden war, schrieb er ein Buch über die Internierungspolitik („Internment“, 1973) und eins über die Foltermethoden der britischen Armee („The Guineapigs“, 1974). Außerdem saß er in der internationalen Untersuchungskommission zum Tod von Ulrike Meinhof. Vier Jahre später wurde bei seinem dritten Buch klar, in welche Richtung sein wahres Interesse geht: Das Buch handelt von schwarzgebranntem irischem Whiskey („In Praise of Poteen“, 1978). Ob die Recherche für dieses Buch zu seiner mysteriösen Krankheit beigetragen hat, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Tatsache ist, daß McGuffin kurz danach im Alter von 35 Jahren zum Frührentner erklärt wurde. Anfang der Achtzigerjahre wanderte er wie so viele Iren, aber aus anderen Gründen, in die USA aus, wo er 19 Jahre lang in einem Haus mit Blick auf Frisco Bay lebte und eine Anwaltskanzlei betrieb.

Aus den USA schickte er zwei Bücher an seinen deutschen Verlag Nautilus, weil kein englischsprachiger Verlag sie drucken wollte. „Der Hund“ ist ein turbulentes Werk, in dem es von Kamikaze-Aktionen, Meucheleien, perfiden britischen Agenten und aufrechten Revolutionären nur so wimmelt. „Der fette Bastard“ ist eine Art Autobiografie, in der allerdings McGuffins vier gespaltene Persönlichkeiten zu Wort kommen, was vergnüglich zu lesen ist, wenn man zuvor Drogen eingenommen hat.

Nun ist er also wieder zurück, wohnt in Derry und trinkt im Sandino’s, einer dunklen Kneipe ganz nahe am Fluss Foyle. Auch in seinem neuen Buch beschreibt McGuffin vorwiegend die Folgen übermäßigen Alkoholgenusses, und sie erscheinen in günstigem Licht. Er muss es wissen. Früher, als er noch im Belfaster „Cobweb Castle“ wohnte, einer dreistöckigen Villa in der besten Wohngegend, die er als „ärmlichen Wohnsitz“ (Seite 28) abtut, bestand seine Tagesration aus einer Flasche Whiskey, dazu zwei Fläschchen Wein und diverse Biere.

Zeit zum Aufstehen! Jetzt müssenwir die Reste austrinken!

Zum Verständnis der neuen Geschichten ist eine detaillierte Kenntnis der jüngeren nordirischen Geschichte nützlich, und wenn man dann noch – wie ich – viele der handelnden Figuren persönlich kennt, ist das ein Bonus. Aber das Buch enthält zum Glück ein Glossar, das für die Leserinnen und Leser unerlässlich ist, die nicht – wie McGuffin – bei jeder Runde dabei waren, die auf die IRA ausgegeben wurde.

Haben sich die Geschichten wirklich so zugetragen? Natürlich nicht. Bei einer Geschichte kann ich es sogar belegen, denn ich komme darin vor: „Als Ralf aufwachte, bestand er darauf, dass wir in die Stadt fahren und ein paar Pints trinken, damit wir einen klaren Kopf bekommen. Ich war schon immer schwach“. (Seite 40) Es war umgekehrt. Es ist immer umgekehrt mit McGuffin. Geschenkt. Ein irisches Sprichwort lautet: „Lass die Wahrheit nicht einer guten Geschichte in die Quere kommen.“ Und gut sind die Geschichten allemal.

Das habe ich an McGuffin seit je bewundert: Nach einer durchzechten Nacht saß er frühmorgens stets in seinem Büro, schrieb mehrere intelligente Texte und holte mich gegen Mittag mit den Worten aus dem Koma: „Zeit für kleine Hunnen zum Aufstehen! Wir müssen die Reste austrinken!“ Aber Reste, das schwöre ich, hat es in McGuffins Haus noch nie gegeben.

Sean McGuffin: „Last Orders“. Aus dem Englischen von Christiane Kühn und Jürgen Schneider. Edition Nautilus, Hamburg 2001, 192 Seiten, 28 DM;McGuffin-Lesereise: 18. 10. Bonn, 19. 10. Ludwigshafen, 20. 10. Ostheim, 22. 10. Göttingen, 24. 10. Kiel, 26. 10. Hamburg, 27. 10. Lüchow, 29. 10. Berlin