: Leichen in der Seine
Ein „Staatsverbrechen“, heute vor 40 Jahren an Algeriern begangen, wurde damals totgeschwiegen. Nun erst beginnt in Paris die Aufklärung
aus Paris DOROTHEA HAHN
Am Dienstag, den 17. Oktober, streikten die Eisenbahner. Der iranische Schah war auf Frankreichbesuch. Und der Rocksänger Johnny Hallyday hatte einen Autounfall.
So war es auf dem Bildschrim zu sehen, im Radio zu hören und in den Zeitungen zu lesen. Dass an jenem Herbstabend des Jahres 1961 französische Polizisten mitten in Paris tausende von friedlichen Demonstranten misshandelt und wahrscheinlich hunderte von Menschen ermordeten, erfuhr die Öffentlichkeit nicht. Kein einziges Medium berichtete darüber, dass in der Seine Leichen schwammen und die Täter französische Uniformen trugen. Aus der Polizeipräfektur verlautete lediglich, es habe in der fraglichen Nacht zwei Tote gegeben – Opfer von Auseinandersetzungen unter „muslimischen Franzosen“.
Ein paar Meter von der Präfektur entfernt findet heute Vormittag auf der Brücke von Saint Michel, von wo furchtbar zugerichtete Menschen in den Fluss gestoßen wurden, der erste offizielle Gedenkakt statt. 40 Jahre nach dem Massaker, dessen Opfer nie gezählt werden konnten, weil die Archive verschlossen oder vernichtet sind, wird der sozialdemokratische Bürgermeister von Paris eine Tafel anbringen. „Zur Erinnerung an die Algerier, die Opfer der blutigen Unterdrückung einer friedlichen Demonstration wurden“, steht darauf. Der Text ist ein Kompromiss. Das Wort „Mord“ sucht man vergebens. Auch der Hinweis auf die Verantwortlichen in Polizei, Justiz und Regierung fehlt.
Tote totgeschwiegen
Die Nacht vor 40 Jahren war das blutigste Ereignis im Paris der Nachkriegszeit, eines der bestgehüteten Geheimnisse der französischen Republik. An jenem 17. Oktober waren 30.000 Algerier einem Aufruf der algerischen Befreiungsfront FLN, die in der Diaspora Geld für den Unabhängigkeitskampf sammelte und großen Einfluss hatte, gefolgt. Sie wollten sternförmig von ihren Vorstadtsiedlungen aus in Richtung Stadtmitte gegen das nächtliche Ausgehverbot für „französische Muslime“ demonstrieren. Manche hatten ihre Familien mitgebracht, viele ihre Sonntagskleidung angezogen. Es sollte eine Veranstaltung des guten Willens werden.
Man befand sich in der blutigen Endphase des offiziell 1954 begonnenen Algerienkrieges. Auch in der „Metropole“ war die Stimmung bis aufs Äußerste gespannt. Immer häufiger kamen Särge mit gefallenen jungen Franzosen aus Nordafrika zurück. Die Attentate der rechtsextremen OAS, die für den Fortbestand des „französischen Algerien“ kämpfte, griffen auf das Mutterland über. Mitten in Paris wurden beinahe täglich Leichen von Algeriern gefunden. Seit Anfang August waren auch über 30 französische Polizisten ermordet worden. Im Gegenzug hatte Polizeipräfekt Maurice Papon seinen Männern einen Blankoscheck erteilt: „Für jeden Schlag gegen uns schlagen wir zehn Mal zurück.“
Zensur und Selbstzensur
In der Redaktion des französischen Radios und Fernsehens RTF saß zu jener Zeit ein Beamter des „Informationsministeriums“, der vorab Einblick in alle Texte hatte. Zu der staatlichen Kontrolle kam Selbstzensur hinzu. Reporter Michel Honorin berichtet der Zeitung Le Monde: „Am Morgen nach dem 17. Oktober wusste ich von den Ereignissen. Zusammen mit einigen Kollegen fragten wir, was die Redaktion dazu bringen würde. Wir bekamen die Antwort, dass das alles schon in wenigen Tagen vergessen sein werde.“
Fast alle Fotos der Gewaltszenen verschwanden, die Vorführung eines Films von Jacques Panijel wurde verboten, und das Blatt France Observateur, das Polizisten zitierte, die von über 50 Leichen im Innenhof der Polizeipräfektur berichteten, bekam eine Verleumdungsklage verpasst. Obwohl Témoignage chrétien eindeutige Bilder veröffentlichte, die der mutige Fotograf Elie Kazan in jener Nacht auf den Straßen gemacht hatte, ging kein Richter an die Arbeit.
40 Jahre danach ist der Oktober 1961 endlich ein Thema. Rundfunksender lassen Überlebende der Demonstration im harten Französisch der algerischen Einwanderer über die völlig unerwarteten Schüsse der Polizei sprechen. Das Fernsehen zeigt die wenigen Dokumentaraufnahmen und rekonstruiert die Razzien. Ein halbes Dutzend neuer Bücher ist auf dem Markt. Und die Printmedien bringen seitenweise Berichte über das bleierne Klima jener Zeit – damals, mitten in Paris, nicht einmal zwei Jahrzehnte nach dem Ende der deutschen Besatzung.
Einer, der sowohl im NS-Regime als auch im Algerienkrieg eine Rolle spielte, hat unfreiwillig Mitte der 90er-Jahre zur Aufklärung des Massakers beigetragen: Maurice Papon, einstmals hoher Vichy-Beamter, der die Juden-Deportationen aus Bordeaux organisierte – wofür er heute im Gefängnis sitzt – und der in den 60er-Jahren Pariser Polizeipräfekt war. Aus dem Gefängnis heraus strengte Papon ein Verleumdungsverfahren gegen den Historiker Jean-Luc Einaudi an, der mehrere Bücher über das Massaker von Paris geschrieben hat.
Als Papon im Jahr 1999 seine Klage verlor, erfuhr ein Teil der französischen Öffentlichkeit erstmals, dass Polizisten in ihrer Stadt in einer Oktobernacht des Jahres 1961 tatsächlich zwischen 32 und 200 Menschen ermordet haben.
Mit halbherziger Aufklärung wollen sich die Mitglieder der Vereinigung „17. Oktober 1961“, die sich alljährlich auf der Brücke Saint Michel versammeln, nicht zufrieden geben. Sie verlangen, dass wenigstens dieses eine „rassistische Staatsverbrechen“ des Algerien-Kriegs aufgeklärt wird. Für ihre seit langem angemeldete Demonstration hatten sie gestern immer noch keine Genehmigung.
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