Im Kriegsschatten

Vor sechzig Jahren deportierten die Nazis die ersten Juden aus Berlin. Für Juristen, Schüler und Schauspieler wurde es schwierig, daran zu erinnern

von MICHAEL DRAEKE

Es ist eines der einschneidendsten, aber dennoch ein fast unbekanntes Datum in der Geschichte Berlins: Vor 60 Jahren, am 18. Oktober 1941, begannen die Nazis mit der Deportation der Berliner Juden. Am Bahnhof Grunewald wurden jüdische Männer, Frauen und Kinder in Züge gepfercht, die sie nach Lodz, in das dortige Ghetto brachten. Später gingen die Transporte direkt in das Vernichtungslager Auschwitz. Das Ziel war, wie es Reichspropagandaleiter Goebbels zynisch formulierte, die Reichshauptstadt „judenrein“ zu machen. Bis März 1945 wurden über 50.000 Berliner zur Reise in den Tod gezwungen.

Aus diesem Anlass hat der „Republikanische Anwältinnen- und Anwaltsverein“ gestern an das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte im „Dritten Reich“ erinnert. Rund 30 Juristen nahmen an der Veranstaltung im Anwaltszimmer des Landgerichts in Moabit teil. Die Berliner Historikerin Simone Ladwig-Winters zeichnete in ihrem Vortrag den Leidensweg einiger Juristen nach, die im Oktober 1941 verschleppt worden waren. Roland Kretschmar las darüber hinaus aus dem 1920 erschienenen Roman „Tohuwabohu“ von Sammy Gronemann. Der Autor beschrieb mit augenzwinkerndem Humor jüdisches Anwaltsleben im Berlin der jungen Weimarer Republik: ein Leben, das nach 1933 unwiederbringlich verloren war.

Das Berliner Ensemble (BE) erinnert jährlich im Oktober mit Sonderaufführungen an die Deportationen. In diesem Jahr stand „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth auf dem Programm. Der Roman, der 1963 in Berlin als Theaterstück uraufgeführt wurde, löste im Deutschland der Adenauer-Ära einen Skandal aus. Der Autor prangerte auf historischer Grundlage das Schweigen Papst Pius XII. zu den Gräueltaten der Nazis an.

Bereits am Mittwoch hatten etwa 760 Schüler aus Berlin und Umland die Gelegenheit, sich mit dem Thema auseinander zu setzen. Das BE hatte für die Schulen eine Sondervorstellung organisiert und ihnen Material zur Vorbereitung überlassen. Die Rückmeldung bei den Schulen sei „absolut überwältigend“ gewesen, berichtet Dramaturgin Jutta Ferbers. Konzentriert folgten die Schüler der immerhin dreieinhalbstündigen Aufführung, ein „echter Klopper“, wie es Regisseur Philip Tiedemann zu Beginn formulierte. Die Bedenken waren jedoch ungerechtfertigt. Nur die Schluss-Szene kippte: Pater Ricardo, von der Tatenlosigkeit seines katholischen Kirchenherren enttäuscht, solidarisiert sich mit den jüdischen Opfern. Am Ende geht er – nackt wie die KZ-Häftlinge – auf ein Licht am Ende der Bühne zu, den Ofen des Krematoriums von Auschwitz. Die Szene versinkt im Gelächter: Für die weithin theaterunerfahrenen Schüler ist die Nacktheit des Schauspielers zu ungewohnt.

Im Anschluss stand die Möglichkeit offen, mit den Akteuren und Hochhuth zu diskutieren. Etwa 100 Besucher machten davon Gebrauch. Eine Schülerin stellt die erste Frage: Sie sei begeistert von der Aufführung, aber: Was, Herr Hochhuth, kann man heute tun, wenn allerorten die Solidarität mit dem Krieg der USA gegen Afghanistan bekundet wird? Von den Berliner Juden war nicht mehr die Rede.