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Kein Leben ohne Zigaretten

„Let It Come Down“: Mit Orchester und Gospel-Chor betet Jason „Spiritualized“ Pierce für den inneren und äußeren Frieden. Doch es geht weiterhin um den Spagat zwischen Avantgarde und Rock ’n’ Roll

Nicht alles muss im Licht des 11. Septembers gesehen werden. Doch wenn von Männerbefindlichkeiten die Rede ist, von Gott, Glauben und Strategien, die eigene Destruktivität in etwas Produktives umzuwandeln, werden die aktuellen Bilder und ihre Deutung in den Feuilletons überpräsent. Angesichts von Einzelnen, die für ihren Glauben in den Tod gehen, mischt sich nicht nur bei Stockhausen Angst mit Respekt. (Künstlerische) Konsequenz, wenn nicht gar „Originalität“ (Mike Davis in der Zeit), ist mehr denn je der Fetisch einer Zeichen lesenden Welt.

Männerfantasien: Wenn es darum geht, sich für (s)eine Sache zu opfern, ist Jason Pierce vorne dabei. Auch wenn das einstmals besungene „Hole in my arm where the money goes“ mittlerweile geschlossen ist, dürfte der Konsum von einer Packung Zigaretten in der Stunde das Ende beschleunigen. Sein T-Shirt hat Brandlöcher, die Rock- ’n’- Roll-Formel „Hope I die before I get old“ hat Bestand. „If I could add years to my life / I would rather add some life to my years“, singt er jetzt. Das bisherige Leben des englischen Mittdreißigers war ein stiller Exzess, eine ambiente Rock ’n’ Roll-Zerstörung.

1982 opponierten Pierce, der sich J. Spaceman nannte, und sein Kollege Sonic Boom unter dem Namen Spacemen 3 gegen den aufkommenden Wave-Pop. Schwarz war die Farbe und Heroin ein ebensolches Statement, die Texte wiesen den (Aus)Weg: „Take me to the other side“ und „Extasy Symphony“. Acht Jahre lang verkroch sich das misanthrope Gespann in ihren Verstärkern und lärmte gegen die schalen 80er, wandelte Punk in Psychedelik, produzierte nicht enden wollende Hommagen an die Stooges,Velvet Underground und Timothy Leary. Weitgehend ohne Rhythmus, wurde ihr harmonisch-flächiger Minimalismus auch mit den zeitgenössischen Kompositionen von John Adams und Steve Reich verglichen.

Dieser Spagat zwischen Avantgarde und Rock ’n’ Roll hat sich auch knapp 20 Jahre später nicht verändert, doch jetzt spricht Pierce von Soul. Seit der Trennung von Sonic Boom 1990 sucht er unter dem Namen Spiritualized die Erlösung. Die Mittel sind die gleichen geblieben, der Unterschied zu Spacemen 3 im Wesentlichen in der Instrumentierung zu finden. Auf jeder der drei zurückliegenden Veröffentlichungen wurde das Rockinstrumentarium um mehr Streicher und Bläser erweitert, die den gedehnten Melodien, dem ewigen Loop orchestrale Größe verliehen. Der bisherige Höhepunkt trug den bekifft-befriedeten Titel „Ladies And Gentlemen We Are Floating In Space“. Die CD kam in Apothekenkarton verpackt und musste aus alufolienverschweißtem Plastik gebrochen werden. Ein Beipackzettel gab zu möglichen Nebenwirkungen Auskunft: „Könnte Schläfrigkeit verursachen“.

Die tatsächliche Folge jedoch war Euphorie: 1997, zu einer Zeit, wo der hymnische Pathos von The Verve seinen Höhenflug hatte, traf Spiritualized den Geschmack der Massen. „Ladies And Gentlemen“ wurde vom britischen Pop-Zentralorgan NME zur Platte des Jahres erkoren und öffnete so den Weg zu weiterer Größe. Deren Richtung wurde durch das auf einer Doppel-CD dokumentierte Konzert in der Londoner Royal Albert Hall mit Chor und Orchester vorgegeben. Im kleinen Rahmen wurde der Weg dabei allerdings einsam: Vor zwei Jahren trennte sich Pierce von seiner Band und machte sich ans Komponieren „mit Klavier und einem Finger“. Musikalisches Können spielt in seiner Welt der großen Gefühle keine Rolle. „Du kennst bestimmt viele gute Gitarristen“, sagt er „aber was haben sie davon? Sie bekommen trotzdem keinen Soul auf ihre Platte. Ich habe letztens einen Pedal Steel Gitarristen gehört, der Brahms auf seinem Instrument spielen kann. Toll. Das ist eine unglaubliche Fähigkeit, aber ich höre Brahms lieber von einem Orchester.“

Das gilt auch für seine eigene Musik. Die jetzt erschienene CD „Let It Come Down“ ist die Kulmination der Entwicklung von Spiritualized zu Spiritual. Audio-Masse realisiert sich für Pierce nicht mehr im Aufdrehen der Verstärker, sondern manifestiert sich in Zahlen. Ganze einhundert Menschen waren an den Einspielungen beteiligt, darunter ein komplettes Orchester, ein Gospel-Chor und eine Doo-Wop-Gesangsgruppe. Die nahe liegende Zuschreibung „Bombast“ trifft dennoch ins Leere. Verglichen mit im Studio aufgepumpten Effekt-Monstern der Gegenwart erscheint „Let It Come Down“ geradezu streng und genau. Er habe alle Instrumente in ihrem Klang belassen, erklärt Pierce, „kein Noise in dem man verschwinden kann, in dem sich die Worte auflösen“.

Und um Worte geht es diesmal mehr denn je. Wie die Musik, so beschreiten auch die Texte eine dünne Linie zwischen Blues, der Musik des Teufels und Gospel bzw. Soul, der Beschwörung des Herrn, zwischen säkularem Gottesdienst und Rockoper. Der Chor hilft gegen den Schmerz: „I Didn’t Mean To Hurt You“ heißt das, „Come On Baby Stop Your Crying“ und natürlich „Lord, can you hear me“. Ihre nachhaltige Wirkung erhalten Pierce’s Formeln aber erst durch die Brechung in den Alltag. So endet „Don’t just do something“ die erste Hymne der Platte, die sich – ungemein zeitgemäß – gegen instinktives Reagieren wendet, mit mit den Worten „ And I forgot to ring my mom again . . . and life ain’t good without cigarettes.“

HOLGER IN‘T VELDT

Spiritualized: „Let It Come Down“ (BMG)

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