Der Uhrmacher des Kanzlers

Mit Akribie und Freude beugt er sich über die Mechanik der rot-grünen Koalition

von PATRIK SCHWARZ

„Mehl!“ Steinmeier kehrt in sein Büro zurück, etwas verspätet, aber erleichtert. „Mehl!“, ruft er, als er im schwarzen Couchsessel sitzt. Soeben gab das Robert-Koch-Institut Entwarnung. Die verdächtigen Briefe, die ABC-Alarm in der Poststelle des Bundeskanzleramts ausgelöst hatten, enthielten Mehl und ein bisschen Hausstaub. „Der Zufall war, dass wir um die Zeit herum, in der das Pulver gefunden wurde, eine Besprechung mit Leuten vom Robert-Koch-Institut hier im Hause hatten.“

Kein Zufall. Vor nicht mal zwei Wochen hat Kanzleramtschef Frank-Walter Steinmeier eine „Zentrale Informationsstelle biologische Kampstoffe“ einrichten lassen. Er habe nicht geahnt, „wie schnell wir sie brauchen würden“. Vorgesorgt hatte er trotzdem. Von Frank-Walter Steinmeier heißt es, er bereite sich auf alles vor. Seit dem 11. September gilt das auch für das Unvorhersehbare.

Einer der Wichtigsten in der rot-grünen Regierung war der 45-Jährige schon vorher. Als im neuen Kanzleramt die Büros vergeben wurden, erhielt er eine Zimmerflucht im eifersüchtig umkämpften 7. Stock, der Leitungsebene. Um den promovierten Juristen nebenan zu haben, hat Gerhard Schröder sogar seine Büroleiterin Sigrid Krampitz ein Stockwerk tiefer einquartiert.

Seit dem 11. September aber ist Steinmeiers Bedeutung so sichtbar geworden, dass sein Name sogar in Zeitungen aus Costa Rica und Tschechien auftaucht. Gleich am Tag nach den Anschlägen hatte er Ussama Bin Laden öffentlich als möglichen Urheber genannt – gestützt auf deutsche Geheimdiensterkenntnisse. Mehrmals wöchentlich versammelt er die Präsidenten von Verfassungsschutz, BND und BKA sowie die Staatssekretäre der wichtigsten Ministerien um sich. „Sicherheitslage“ heißt diese Sitzung.

Gemessen an dem Druck, dem er ausgesetzt sein muss, sitzt er fast aufreizend entspannt da. „Das ist der Unterschied zwischen der ersten Reihe – und der zweiten Reihe, die ich da besetze.“ Steinmeier, das wollte er selber so, ist Beamter geblieben und hat auf den Ministerrang verzichtet. Den Unterschied sieht man auch. Seine Sätze sind länger als Gerhard Schröders, seine Armbewegungen weniger raumgreifend als Joschka Fischers. „Ich strebe nicht weg von diesem Amte“, sagt er. Es gibt auch keinen Grund dafür. Er hat sein Büro nicht verlassen müssen, um in die erste Reihe zu rutschen.

Seit dem 11. September gehört der Schröder-Vertraute dem Sicherheitskabinett an, jenem fünfköpfigen Kriegsrat, der weder von der Verfassung noch der Geschäftsordnung der Bundesregierung vorgesehen ist. Immer wenn es eng wird, zeitlich und politisch, beziehen die zwei aus dem Kanzleramt nur noch die Minister Schily, Scharping und Fischer in ihre Entscheidungen mit ein. Von der Zustimmung Deutschlands zum Nato-Bündnisfall, immerhin einer Premiere in der Geschichte der Organisation, erfuhren selbst die Fraktionsführer im Bundestag erst nachträglich. Wenn der Kreis der Akteure schrumpft, schlagen ihre Stärken wie Macken politisch weit stärker durch als im Regierungsalltag mit seinem Geflecht an mäßigenden Einflüssen.

Frank-Walter Steinmeier differenziert zu beurteilen, ist schwer – man hört nur Gutes über ihn. Freundlich, fair und effizient sei er, sagen Mitarbeiter, Minister und Fraktionschefs. Vor allem effizient. Ein begnadeter Vermittler – schön. Ein exzellenter Manager – gut. Aber wo bleiben die Überzeugungen? „Man sagt, er habe magische Kräfte“, schrieb halb ironisch, halb verwirrt die FAZ, und die Zeit nannte ihn „Dr. Makellos“. Da scheint es, als säße zur Rechten des Kanzlers wahlweise ein Mann ohne oder mit übersinnlichen Eigenschaften. Beides wäre in Krisenzeiten nicht unbedingt beruhigend.

Aus der Nähe betrachtet handelt es sich bei Dr. Steinmeier aus Detmold um eine sehr irdische Gestalt. Manche Juristen gehen in die Politik, um mit den Werkzeugen ihrer Disziplin neue Welten zu entwerfen, andere beschränken sich darauf, das Funktionieren der bestehenden Welt halbwegs reibungsfrei zu gestalten. Steinmeier gehört wohl zur zweiten Gruppe und ist damit im Grunde mehr Handwerker als Politiker. Man kann ihn sich als Uhrmacher des Kanzlers vorstellen, der sich mit Akribie und Freude über die Feinmechanik der Koalition beugt.

Rezzo Schlauch bescheinigt ihm, seine Verhandlungskunst sei „ein unersetzliches Schmiermittel für das Räderwerk von Rot-Grün“. Wenn zwei so unterschiedliche Schwungräder wie ein großes rotes und ein kleines grünes den Lauf der Republik in Gang halten sollen, braucht es einiges Fingerspitzengefühl. Wenn Schröders Slogan von der ruhigen Hand Gestalt angenommen hat, dann in Steinmeier – er ist Frank-Walter Ruhigehand.

Da sind die zwei Regierungsfraktionen, die er erst am Auseinanderstreben hindern muss und dann wieder am Aufeinanderprallen. Da sind die Minister, deren Egos er mal ausbremst und mal einspannt für die Ziele seines Chefs. Wie bei den Atomkonsensgesprächen. Wer hätte gedacht, dass die Grünen sich mit dem Ausstieg 20 Jahre gedulden würden?

Steinmeiers Konzentration auf das exakte Untersuchen und Regulieren kann man ihm auch als Beschränktheit auslegen. Diese Eigenschaft benennen auch Untergebene als Schwäche, ebenso wie ein Kabinettsmitglied. Einer sagt: „Er ist ein Technokrat, also gewinnt er sein ganzes Machtgefühl aus der Funktionsfähigkeit des Apparats.“ Habe er den Apparat zum Laufen gebracht, seien auch die Ergebnisse entsprechend. „Was ein Technokrat nicht so genau weiß, ist wie man das dann dem Volk erklärt.“ So prüfe der Staatssekretär Gesetzesvorhaben zwar bis zur Kabinettsreife getreulich durch, aber „ihm entgeht die gesellschaftliche Dynamik“ danach. Ein anderer meint, Steinmeier verfolge die Suche nach Problemlösungen zwar mit der „Zähigkeit einer Bulldogge“, aber kreativ könne er nur sein, wenn Schröder ihm einen Rahmen vorgebe.

Steinmeier sitzt vorne auf der Sesselkante. Mangelnde Fantasie? Der Praxistest. Welches Schlagwort, welche Überschrift fällt ihm ein für die neue Republik, an der er im Auftrag seines Kanzlers so fleißig werkelt? Steinmeier stockt, lacht dann und fragt, ob er das nachreichen darf. „Da bin ich nicht die geeignete Person, um das mit derselben Prägekraft zu versehen, wie Gerhard Schröder es kann.“

Seine Nüchternheit sollte man nicht verwechseln mit seelischer Teilnahmslosigkeit. Der Kanzleramtschef gebraucht die Vokabel vom „rot-grünen Projekt“ noch mit einer Unbekümmertheit, wie sie aus Furcht vor Hohngelächter kein Joschka Fischer mehr an den Tag legen würde. Immerhin verkörperte dieses Projekt in der Anfangszeit der Legislaturperiode einmal einen Traum, der größer sein wollte als die Machtpolitik.

Wenn Steinmeier ins Erzählen gerät, weicht ein wenig der Blässe aus seiner Beamtenbiografie. Als Student hat er das Rot-Grün regierte Hessen erlebt. In der niedersächsischen Staatskanzlei von Ministerpräsident Gerhard Schröder bewarb er sich, weil Rot-Grün „das Spannendste“ war, „was es damals gab“. Der Tüftler, schon damals fasziniert von einer komplizierten Kombination.

Die Grünen könnten bald auf solche Sympathie aus alten Zeiten angewiesen sein. Der Krieg gegen den Terror hat gerade erst begonnen, und es ist ungewiss, ob nicht Rot-Grün ein Opfer werden wird. Bisher haben die Grünen niemanden im Kanzleramt. Könnte Staatssekretär Steinmeier in der Krise für die Grünen zum Doppelagenten werden?

„Er hat mehr von einem rot-grünen Herz als Schröder selbst“, glaubt der Politikwissenschaftler und Grünen-Experte Joachim Raschke. Zwei Zeugen widersprechen: Jürgen Trittin und Frank-Walter Steinmeier. Der Verdächtige sagt: „Ich habe mich schon in Niedersachsen granatenmäßig über Sozialdemokraten geärgert, die 1994 trotz einer absoluten Mehrheit für die SPD laut ‚Rot-Grün!‘ skandierten. Das ist mir alles ein bisschen zu idyllisch.“ Der Umweltminister meint, Steinmeiers vorbildliche Fairness gegenüber den Grünen und seine verbindlichen Umgangsformen könnten zu falschen Rückschlüssen führen. „Erstmal ist der Frank absolut loyal seinem Kanzler gegenüber.“

Bisher ist er gut damit gefahren. Was Steinmeier heute ist, ist er durch Schröder. Die Macht, die der Chef des Bundeskanzleramts ausübt, ist nur geborgt vom wahren Chef im Kanzleramt.

Am Mikrokosmos zwischen ihm und Gerhard Schröder ist nichts besonderes, findet Steinmeier. Außenstehende „würden unsere Zusammenarbeit miteinander wahrscheinlich als relativ unaufregend erleben“. Gleichmütig und freundlich spricht er von seinem Alltag mit Deutschlands mächtigstem Politiker. „Wir haben das ja nun auch schon eine Reihe von Jahren miteinander geübt.“ Pause. „Insofern haben wir geregelte Tagesabläufe und ein geregeltes Kommunikationsverhalten.“

Geregeltes Kommunikationsverhalten. Das klingt nicht nach Liebe. Eher nach Ehe ohne Höhepunkte. Ehe? Steinmeier lacht.

Auch an der Beziehung zu den Grünen hängt er. „Das Projekt ist spannend, bleibt spannend“, sagt er, „wenn es die Gestaltungsfähigkeit für die nähere Zukunft dieser Gesellschaft behält.“ Gemeint ist vor allem der Militäreinsatz an der Seite der USA. Da ist für ihn die Grenze, und Frank-Walter Ruhigehand lässt keinen Zweifel, dass sie gezogen wird. „Ich meine das ohne jeden drohenden Unterton.“ Wieder der Feinmechaniker. „Das hat weniger was mit dem Herz zu tun.“ Es sei eine Entscheidung, die beide Koalitionspartner „unabhängig voneinander“ treffen müssten. Jetzt müssen das rote und das grüne Zahnrad ineinander greifen, da kann kein Schraubenzieher helfen. „Und wenn es nicht geht, werden die Entscheidungen anders getroffen werden.“ Große Koalition? Sozialliberale Koalition? Neuwahlen? „Ich wünschte mir das nicht, um das ganz klar zu sagen.“ Aber in der Not tauscht ein Uhrmacher lieber ein paar Rädchen im Getriebe aus, als das gute Stück ganz zu verlieren.

Zumal der Kanzler und sein Staatssekretär noch enger zusammengerückt sind. Der Krieg schafft seine eigene, merkwürdige Intimität. Nachts, wenn im Foyer des Kanzleramts die Fernsehkameras auf die neuesten Bekanntmachungen im Anti- Terror-Krieg warten, fahren Gerhard Schröder und Frank Steinmeier gemeinsam mit dem Aufzug nach unten. 57 ist der eine, 45 der andere. Der Ältere ist immer noch in seine unvermeidliche Kanzleruniform gezwängt, der Jüngere hat schon mal ein schwarzes Sweatshirt unter dem Jackett an. Während der Bundeskanzler an das Stehpult im Kranz der Scheinwerfer eilt, beobachtet sein Getreuer, die Arme verschränkt, aus dem Schatten der Kameras die kurze Ansprache des Chefs. Ist das Wesentliche gesagt, nickt Steinmeier kurz, mehr zu sich selbst, und fährt schon mal allein voraus, zurück in den 7. Stock.