Am Hinterrad Merckxens

Der Versuch des Radprofis Thomas Liese, einen Stundenweltrekord aufzustellen, ist gescheitert. Der deutsche Zeitfahrmeister gab vorzeitig auf und kapitulierte vor der Leistung eines Altvorderen

aus Berlin ANDREAS RÜTTENAUER

Am Samstagvormittag um 10 Uhr 43 fuhr Thomas Liese aus der Startmaschine im Berliner Velodrom. Er machte sich auf den Weg, ein ganz Großer zu werden. Er wollte sich einreihen in eine Liste, in der Namen stehen wie Fausto Coppi, Jacques Anquetil und Eddy Merckx. 33 Jahre ist Liese inzwischen alt, kann auf eine lange und durchaus erfolgreiche Karriere zurückblicken, doch der ganz große Wurf ist ihm bislang nicht gelungen, sodass sein Name wohl nur Radsportfans wirklich etwas sagt.

Der 120. der aktuellen Weltrangliste hatte sich vorgenommen, in einer Stunde mindestens 49.442 Meter weit zu fahren. Damit hätte er den Weltrekord, den Chris Boardman vor einem Jahr in Manchester aufstellte, um einen Meter übertroffen. Seit der Internationale Radsportverband vor knapp zwei Jahren beschloss, den Weltbestzeiten, die auf futuristisch anmutenden Sonderanfertigungen zustande kamen, die Anerkennung zu versagen, glaubte Liese an seine Chance. Plötzlich hatte ein Weltrekord aus einer längst vergangenen Epoche des Radsports wieder Gültigkeit, Eddy Merckxens Bestleistung aus dem Jahr 1972. Chris Boardman, als Zeitfahrspezialist auch er einer der ganz Großen der Branche, fuhr im vergangenen Jahr lediglich zehn Meter weiter als der legendäre Belgier. „Ich war mir sicher, dass ich das schaffen kann“, sagte Liese nach dem Rekordversuch.

Zu Beginn des Unternehmens Weltrekord sah es noch sehr gut aus. Wie an der Leine gezogen, drehte Liese Runde um Runde vor den leeren Rängen des Velodroms. Er wollte seine Ruhe haben, wollte nicht abgelenkt werden von Anfeuerungsrufen aus dem Publikum, mochte keine „Rummelplatzatmosphäre“, und so fand die Veranstaltung „unter Ausschluss der Öffentlichkeit“ statt, wie es auf einem Zettel am einzigen offenen Eingang zum Berliner Radsporttempel hieß. Die wenigen Beobachter, darunter Lieses Eltern und seine Freundin, staunten zunächst nicht schlecht über das Tempo, das der Kapitän von Team Nürnberger vorlegte. Bundestrainer Bernd Dittert, der die Betreuung am Bahnrand übernahm, marschierte ausgehend von der Startlinie Meter um Meter in Lieses Fahrtrichtung. Dadurch wusste dieser, dass er im Bereich eines neuen Weltrekords unterwegs war. Es schien optimal zu laufen. Doch nach etwas mehr als zehn gefahrenen Kilometern kam dann das „erwartete Loch“. Der Bundestrainer lief nun in die andere Richtung, und Liese konnte sehen, dass er nicht mehr im Plan lag. Die Spuren der Anstrengung schrieben sich in sein Gesicht, dem man ansah, dass er sich durchbeißen wollte. „Ich war mir sicher, dass ich wieder aus dem Loch rauskomme“, meinte Liese hinterher. Doch Dittert wanderte weiter in die Richtung, die für Liese nichts Gutes verhieß. Und so wunderte sich schließlich keiner der Anwesenden, dass Liese seinen Versuch nach 121 Runden von 250 Metern Länge abgebrochen hat. 37:20 Minuten war er unterwegs, was einem Schnitt von 48,5 km/h entspricht.

An der zu hohen Übersetzung (56:14) habe es gelegen, auch sei die Sitzposition einfach ungünstig für ihn, meinte Liese. Als Zeitfahrspezialist sei er es gewohnt, seinen Oberkörper auf am Lenker angebrachten Armstützen abzulegen, was einerseits die Belastung verringere und andererseits aerodynamisch günstiger sei. Liese jedoch wirkte bei seinem Rekordversuch wie ein Radfahrer aus einer anderen Zeit. Da wurde kein Hightech-Ufo auf eine Umlaufbahn geschossen, da saß ein Mensch auf einem ganz gewöhnlichen Bahnrad. Nicht viel anders hat wahrscheinlich Eddy Merckx ausgesehen, als er 1972 in Mexiko-City seine Runden gedreht hat. „Da sieht man einmal, in welcher Verfassung ein Merckx vor 29 Jahren gewesen sein muss“, meinte Liese.

Dass die heute gültige Bestmarke im Bereich eines Wertes liegt, der vor mehr als einem Viertel Jahrhundert erreicht worden ist, scheint den 33-Jährigen nicht zu entmutigen. Im Gegenteil. Im nächsten Frühjahr will er einen neuen Versuch starten, „wenn dann der Rekord noch so besteht, wie er jetzt ist. Doch, das ist zu schaffen“, wiederholte er nach seiner Fahrt immer wieder. 30 Kilometer weit ist er am Samstag gekommen. 19.442 zu wenig, um ein ganz Großer zu werden.