: Die Schildkröte auf Rädern
Ein Kindergeburtstag im Schatten der jüngsten Ereignisse: Die Eltern diskutieren über den Clash der Kulturen, der Sohn erprobt die klassische Modernisierungstheorie am lebenden Objekt
von WLADIMIR KAMINER
Andy, der ehemalige Kindergartengenosse unserer Tochter, feierte seinen siebten Geburtstag. Drei Kinder und sechs Erwachsenen kamen zusammen, um das Ereignis zu feiern. Obwohl sich keine rechte Feierlaune einstellen wollte: Die allgemeine Nachdenklichkeit der Eltern nach den Anschlägen auf das WTC hatte sich merkwürdigerweise auch auf die Kinder übertragen.
Sie saßen im Kinderzimmer auf dem Boden, waren leiser als sonst und halfen dem Geburtstagskind, seine Geschenke auszupacken: einen grünen Polizisten auf Motorrad mit mehreren Ersatzakkus, eine Plastik-Eisenbahn, ein Segelschiff mit Kanonen und Piraten und ein rotes Maschinengewehr. Das wertvollste Geschenk hatte Andy, der besonders Dinosaurier mochte, von seiner Tante bekommen: eine lebende Schildkröte, die sich bereits im Kinderzimmer versteckt hatte.
Dort – unter dem Kleiderschrank – versuchte sie ihren Kulturschock zu überwinden. Die Kinder legten vor dem Schrank Futter aus, um die Schildkröte zu zivilisieren. Die Erwachsenen tranken in der Küche Rotwein und Bier und unterhielten sich über den Kampf der Kulturen. Die Mutter von Andy meinte, dass die Terroranschläge von einer Krise der islamischen Kultur zeugen.
Der Glaube an eine fortschrittliche Entwicklung der Islam-Staaten sei wacklig geworden und so wurden die Gläubigen zu Fanatikern und schließlich zu Selbstmördern, um sich in ihrem Glauben zu bestärken. Andys Tante meinte dagegen, dass wir Europäer nicht imstande seien, die arabischen Beweggründe nachzuvollziehen. „Ost ist Ost und West ist West, und wir kommen nie zusammen“, meinte sie. Meine Frau, die über einige persönliche Erfahrungen mit dem Terrorismus in Tschetschenien verfügt, verdammte sicherheitshalber alle Kulturen und Zivilisationen samt ihrer Terroristen. Andys Vater, ein Bauingenieur, war der Meinung, man dürfe sich nun von den Problemen der anderen nicht mehr so abschotten. Die erste Welt müsse die dritte Welt nach unserem Vorbild modernisieren, um die eigene Demokratie zu retten.
Besonderes wichtig seien Bildung und Aufklärung, meinte er, wir müssten auf die Bildung der neuen Generation in den arabischen Ländern Einfluss nehmen, sie also für unsere Lebensweise begeistern. Die Kinder riefen uns in das Kinderzimmer: Sie hatten die Schildkröte gefangen und waren gerade dabei, sie voll zu modernisieren. Sie sollte nun ein aktives Mitglied ihrer Lebensgemeinschaft werden. Als erstes schraubte Andy vier kleine Rädchen von seiner Eisenbahn ab und befestigte sie mit Klebeband an dem Panzer der Schildkröte.
Dadurch sollte die Schildkröte auch an ihrer Bewegungsfreiheit in vollem Ausmaß teilnehmen können. Rein technisch gesehen hätte das gut funktionieren können. Die kleinen Rädchen bildeten genau den richtigen Abstand zwischen der Reptilie und dem Fußboden, sodass sie ohne große Anstrengung durch die Wohnung rollen konnte. Die derart modernisierte Schildkröte bewegte sich nun aber gar nicht mehr.
Sie wirkte völlig paralysiert, also überhaupt nicht glücklich. „Das ist Tierquälerei!“, entsetzte sich Andys Mutter. „Eine Schildkröte ist nun mal kein Porsche, für sie ist es total unorganisch, auf Rädern zu rollen. Macht sie sofort wieder ab!“ Andys Vater, der Bauingenieur, widersprach ihr: „Warte nur ab, die Schildkröte wird schon in den Genuss der Bewegungsfreiheit kommen und verdammt froh sein, rollen zu können! Sie braucht nur ein bisschen Zeit!“ Wir gingen zurück in die Küche, um weiter zu trinken und über den „Clash der Zivilisationen“ zu diskutieren.
Nach einer halben Stunde erschien Andy in der Küche und behauptete: Die Schildkröte rollt nun! Wir gingen ins Wohnzimmer. Erstaunlich aber wahr, die Schildkröte raste tatsächlich wie eine Rakete durch die Wohnung. Sie nahm sogar Anlauf, versteckte dabei ihren Kopf und knallte gegen die eine oder andere Wand. Doch viel Spaß schien sie dabei nicht zu haben. An ihren chaotischen Bewegungen konnte man vielmehr überhaupt nicht nachvollziehen, wo sie hin wollte. „Ich habe schon immer gesagt, eine fremde Kultur bleibt eine fremde Kultur, egal wie man sie modernisiert“, stieß Andys Tante hervor. Andys Vater gabe sich nicht gleich geschlagen: „Alles Quatsch“, sagte er, „sie braucht einfach eine Bremse.“ „Au ja!“, schrien die Kinder, „lass uns eine Bremse für die Schildkröte bauen.“ Zusammen mit den Kindern fing Andys Vater an, das Segelschiff auseinander zu nehmen. Wir anderen verdrückten uns in die Küche. „Wenn man nur wüsste, was diesen fremden Kulturen tatsächlich fehlt“, seufzte die Tante. „Aber wir kennen sie gar nicht. Alle unsere Kenntnisse über diese fremde Kulturen bestehen fast nur aus Urlaubserlebnissen – in Tunesien, Algerien oder Marokko. Wir haben einfach keine Ahnung!“ Meine Frau plädierte dessen ungeachtet für gezielte militärische Anschläge . . . Es kam keine Einigkeit zustande.
Als wir nach einer Stunde wieder das Wohnzimmer betraten, um mit unserer Tochter nach Hause zu gehen, war die Schildkröte kaum noch als eine solche zu erkennen. Es hatte ein ungeheurer Modernisierungsschub stattgefunden. Außer den Rädern hatte sie nun oben auf dem Panzer noch ein Segel und hinten einen kleinen Ventilator – zum Steuern – sowie eine durchsichtige Plastikhülle um den Kopf, die wahrscheinlich die Rolle eines Airbags spielen sollte . Sie war damit eindeutig übermodernisiert – bewegte sich nicht von der Stelle und kuckte böse. Die Schildkröte lehnte demonstrativ alle Werte unser westlichen Zivilisation ab, die Schnellbewegungsfreiheit ebenso wie alle Sicherheitsmaßnahmen. Wahrscheinlich wollte sie einfach eine ganz normale Schildkröte sein, so eine wie du und ich.
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