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Schneeballschlacht in Hebron

Seltsame Orte am Ende der Welt: Terroristen-, Drogen- und Flüchtlingslagerfilme beim 44. Leipziger Dokumentarfilmfestival. Die Goldene Taube ging an den israelischen Beitrag „Eingeschlossen“

von DETLEF KUHLBRODT

Das „Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm“ ist 44. Die Cinestarkinos im Petersbogen – eine Art Potsdamer Platz, aber größer –, in denen ein Großteil der 370 Filme gezeigt wurde, sind angenehm, haben die Beengtheit der letzten Jahren beseitigt und wohl auch dazu beigetragen, dass in diesem Jahr viel mehr Zuschauer (18.500) kamen als sonst.

Dienstag

Vom Bahnhof aus sieht man eine Videoleinwand: „USA greifen mit Kampfjets an.“ In der Post gibt es Milzbrand-Fake mit dem üblichen Tralala. Im Hotelfernseher gibt es: „PAY TV 19.50 Paykanal wurde geschlossen, da Pay-TV nicht akzeptiert wurde“. Bei der Eröffnungsveranstaltung hält Festivalchef Fred Gehler eine Antikriegsrede: „Filmfestival zu Zeiten des Krieges“, ekliger „Krieg der Wörter“ und dass die vom Festival ausgewählten Dokumentarfilme „gegen die instrumentalisierten Medienbilder authentische Bilder der Aufklärung setzen“. Ein junger amerikanischer Fotograf mit afghanischen Vorfahren zeigt Kindergesichter aus afghanischen Flüchtlingslagern im pakistanischen Grenzgebiet. Ein jugoslawischer Antikriegsfilm von 64 mit Kindern, ein Dok-Film über New York von 1936, eine tonlose Dokumentation des zerbombten Leipzigs von 1943, russische Soldaten in Tschetschenien und anderswo. „Ist ja wie früher“, meint ein Kollege. Statt Empfang schaut man im Hotel Fußball mit schlechtem Gewissen. Schalke Manager Assauer hat seinen Stürmerstar Mpenza suspendiert: „Mit solchen Leuten kann man keinen Krieg gewinnen.“ Ohne solche: 4:0.

Mittwoch

Frühstücken, so viel man kann. Im Programm gibt es viele Familiengeschichten: Kinder, die ihren Eltern nachrecherchieren; Terroristen-, Drogen- und Flüchtlingslagerfilme; seltsame Orte am Ende der Welt; Krieg; eine Reihe mit Dokumentarfilmen aus Syrien. Alles in echt. „Heroines“ von Stan Feingold erzählt von einem Fotografen in Vancouver, der drogensüchtige Frauen wie Models porträtiert. Die Junkiefrauen sehen schön, stolz und kaputt aus. Sie erzählen Missbrauchsgeschichten und vom Strich. „Mein erstes Jahr war wie Woodstock.“ Der junkietypische Jammertonfall ist die Ausnahme. Der Film ist zugemüllt mit Musik und Bildern, die Rausch nachmachen wollen. Pedro Costas „In Vandas Zimmer“ zeigt drei Stunden lang den Alltag drogensüchtiger Leute in einem Elendsvorort von Lissabon. Zwei Frauen sitzen in einem dunklen grünen Zimmer, reden, reden, reden und rauchen dabei Crack. Baggerlärm kommt von draußen, das Haus zerfällt. Witali Manski, Russland, porträtiert einen sichtlich gealterten Gorbatschow. Der sitzt in Jeans, Pullover, Baseballkappe im Kornfeld, spricht über den Tod seiner Frau und sagt: „I do not want to live.“ Oder nur noch wegen der Enkelkinder. Er geht an der Berliner East Side Gallery entlang. Zufällige Mountainbike-Slacker geben ihm nach kurzem Zögern die Hand. Gorbatschow hat erkannt: „We are all children of the sun.“ Und findet Scooter ganz gut zum Teil.

Dann kam ein hagerer „Totenwäscher“ in Mohsen Amirs Film aus dem Iran. Ganz still, mit Händen und Füßen, die zu groß wirkten wie oft bei Alten. Er wusch sich selbst, dann Tod, und die eigene Sprachlosigkeit legte sich erst bei der Diskussion über so einen üblichen Kubafilm aus Belgien, als die junge Regisseurin den Stolz der Kubaner lobte, die sich entschieden hätten, auf der Insel zu bleiben, als hätten sie die Wahl. Erik Gandini und Tarik Saleh aus Schweden porträtierten Ciro Bustos, der lange Jahre als Verräter von Che Guevara galt und in Schweden lebt. Régis Debray, der lange Zeit als Held gefeiert wurde, ist der eigentliche Verräter und hat mit der bolivianischen Armee zusammengearbeitet. Anthrax-Alarm in der Damentoilette des Kinos wegen Handtuchabreibpulver. Im Fernsehen verliert die afghanische Kricketnationalmannschaft.

Donnerstag

Beim Frühstück ist der Berliner Filmemacher Jürgen Brüning immer noch traurig über die teils vernichtenden Kritiken an seinem letzten Film. „Danach wollte ich mich von der Terrasse stürzen, hab’ es dann aber doch nicht gemacht.“ Der israelische Film „Eingeschlossen“ von Anat Even und Ada Ushpiz sollte später die Goldene Taube gewinnen. Drei palästinensische Witwen leben mit ihren elf Kindern in Hebron. Das Haus liegt direkt an der Grenze. Auf dem Dach hat die israelische Armee einen Beobachtungsposten eingerichtet. Alles ist wahnsinnig beklemmend. Die Bewohner dürfen nur selten das Haus verlassen. Die Besatzungssoldaten pissen neben die Wassertanks der Bewohner. Orthodoxe feiern vor dem Haus das Purimfest und verbrennen Puppen ihrer Feinde. Der ungeheure Stress der Bewohner in einer Atmosphäre knapp unterhalb des Krieges: „I want the whole world to be on fire like me.“

Auf der anderen Seite die islamische Männergesellschaft, die den Witwen nur noch die Einsamkeit gestattet. Jerusalem ist schöner als Hebron. Eine seltsame Szene: Araber und Besatzungssoldaten machen eine Schneeballschlacht und lachen dabei. Am Ende verlassen die Einwohner das Haus.

Freitag bis Sonntag

Es gab einige Terrorismusfilme und -diskussionen. Am besten besucht war das Holger-Meins-Porträt „Starbuck“ von Gerd Conrad. Die Leiche des nackten, am Bauch wieder zusammengenähten Exfilmemachers und Terroristen sah aus wie eine Hülle, die man ablegt. Nach dem Film sagte die Tochter von Gerd Conrad, nun verstehe sie ihren Vater, der sich mehr als zwanzig Jahre mit seinem ehemaligen Filmhochschulfreund beschäftigte. Langhans war auch da. Als er sich akkreditierte, fragte er als Erstes nach dem nächsten Naturkostladen.

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