: Berlin–London hin und zurück
Radical Fashion Flight
Der Flugverkehr, wir wissen es alle, hat nach dem 11. September stark nachgelassen. Als Passagier merkt man das so gut wie überhaupt nicht; was den neuen Sicherheitsrichtlinien gedankt ist. Man wird heute seinen Flieger leichter als früher verpassen. Denn wer glaubt schon, dass diese vielfach gewundene Menschenschlange, die sich bereits um die Gepäckscanner windet, die daraufhin bis auf einen geschlossen werden, wer glaubt also schon, dass diese Menschenschlange genau die Reihe ist, in die man sich selbst einordnen muss?!
Nun ja, die Abflughalle im Flughafen Schönefeld ist nicht gerade riesig. Da kann ein bisschen Menschenmenge gleich ein riesiger Klumpen werden, der sich kaum voranbewegt. Trotzdem, man kommt unter einer Stunde davon, bis endlich alle Checks hinter einem liegen. Steht man aber erst einmal in dieser Schlange, bemerkt man, dass die Halle vollkommen im Besitz der Gruppe ist, die der bundesdeutsche Wohlfahrtsstaat wohl am meisten privilegiert, nämlich der Gruppe der Rentner. Während die Swiss Air mit ihren Geschäftskunden Pleite macht, fliegen TUI und all die anderen Charterfluggesellschaften wie gewohnt fröhliche Alte nach Antalya, Mallorca und Tunis. Unter den Massen älterer Damen und Herren fallen die jungen Leute kaum auf. Außer den Urlaubs-Chartern fliegt hier in Schönefeld auch der Städteflug-Discounter Buzz mehrmals täglich nach London, und da wollen nicht die Alten, wohl aber die Jungen hin.
Auch ich will da hin, businesshalber, aber Business ist nicht, in Schönefeld. Jedenfalls nicht das des mittleren Managements, der Angestellten im grauen Geschäftsanzug. Wenn der alte sozialistische Geist noch irgendwo gegen die neuen marktwirtschaftlichen Anmutungen, vor allem aber gegen dessen mit Laptop und Handy gewappnetes Personal Widerstand leistet, dann hier auf diesem Flughafen, von dem man eben immer noch abhebt, wenn das Urlaubsziel Kuba heißt. Ich will, wie schon gesagt, nur nach London; zur Eröffnung der neuesten Ausstellung im Victoria & Albert Museum: „Radical Fashion“. Leicht einzusehen, dass der Start in Schönefeld ein merkwürdiges Intro zu diesem Tagesausflug bildet. Sowohl den in Beige gekleideten, mit Bequemschuhen ausgestatteten Pensionären wie auch den in Schwarz oder buntem Sports wear daherkommenden Jugendlichen ist modisches Styling ganz offensichtlich egal. Ehrlich gesagt, gefällt mir diese Mischung. Schließlich hat das graue Geschäftsvolk, das statt Buzz in Schönefeld lieber BA und Lufthansa in Tegel fliegt, mit Mode auch nichts am Hut, und dass dann Brand-Names das Manko ausgleichen sollen, macht die Sache nicht spannender. Im Gegenteil.
Spannend ist allerdings, wie die Flugdiscounter die Gunst der bösen Stunde nutzen. Wer fliegt, fliegt billig. Das stellt sich nach dem 11. September noch einmal deutlich heraus. Und so ist jetzt auch kein Business mehr in Tegel. Die Lufthansa hat die Preise angehoben und die Anzugträger bleiben vermehrt zu Hause. 50 Millionen Euro Einbußen beklagt Lufthansa Vorstandschef Jürgen Weber Woche für Woche. Er entlässt Personal, während die Discounter im September bis zu 30 Prozent Zuwachsraten meldeten. Schließlich kann man für unglaubliche 29 Mark nach London kommen, 58 Mark hin und zurück, Steuern und Gebühren inklusive. Wer spricht hier von „Radical Fashion“? Es geht um „Radical Flight“. Vom Provinzflughafen Lübeck oder von Hahn im Hunsrück aus. Dort startet die irische Fluglinie Ryanair. Go-fly und Buzz machen es für immer noch schlappe 180 Mark von München, Frankfurt und Berlin aus. Buzz, das KLM gehört, ist der kleinste Discounter. Seine Flüge sind sicher, die Flugscheine abgeschafft, die Plätze werden einfach per Internet verkauft. Mit dem Ausdruck von zu Hause in der Hand bekommt man seine Bordkarte, und wer dann im Flieger unbedingt einen Kaffee braucht, muss eben zahlen. Allerdings, der Kaffee, den man dann bekommt, schlägt den von Lufthansa et al. um Längen.
Schön also, dass Schönefeld immer noch ein Flughafen der zweiten Liga ist. Denn die Billigflieger wollen ihre Maschinen spätestens 30 Minuten nach der Landung wieder starten lassen. Das schaffen sie auf den großen Verkehrsflughäfen nicht. Michael O’Leary, der Vorstandsvorsitzende von Ryanair, die neun Millionen Passagiere im Jahr befördern, sagt, dass Flugzeuge, die stehen, Geld kosten. Und er ist stolz, dass er Lufthansa auf der Verbindung Frankfurt–Stansted Airport schon in die Knie gezwungen hat. Hier fliegt der Kranich nicht mehr. Apropos Stansted: Beim Rückflug klumpen sich auch hier die Menschenmassen. Diesmal wegen des Komplettausfalls der Scanner, der, man muss sich dieses Bild vor Augen halten, tatsächlich eine Einzeldurchsuchung jedes Handgepäcks nach sich zieht. Weil nun der Modedesigner Martin Margiela in der Modeausstellung Jackets, Westen, Schuhe und Accessoires in 124 bis 1.000facher Vergrößerung präsentierte, beschließe ich in diesem Horrorszenario eben nur einen Kunsttrick zu sehen, die 156fache Vergrößerung der üblichen Warteschleife: Operation „Radical Fashion Flight“.
BRIGITTE WERNEBURG
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