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„Wir sind alle Reisende“

■ Dienstboten, Auswanderer, bananenhungrige Rentner: In der Bahnhofsmission treffen sich seit über 100 Jahren die Gestrandeten dieser Welt. Gestern wurde dort gefeiert

„Macht das mal immer mit dem warmen Essen“, ruft der etwa 16-jährige Junge zum Abschied. Doch die heiße Erbsensuppe mit Würstchen gab es gestern zum letzten Mal in der Bremer Bahnhofsmission. Anlass war die Einweihung der neuen Räumlichkeiten in der Haupthalle. Einmal noch durfte die Bahnhofsmission ihre klassische warme Mahlzeit ausgeben. Heute schon wäre das vertragswidrig. Was Bahnchef Mehdorn in einem Interview in der „Bild am Sonntag“ Mitte Oktober ankündigte, hat sich auch in dem neuen Nutzungskontrakt niedergeschlagen. Die Ausgabe von warmen Mahlzeiten soll nicht mehr in den Bahnhöfen erfolgen. Die Bahnhofsmission darf künftig nur noch an “bedürftige Reisende kleine Speisen abgeben“. Renate Hansen, eine der beiden hauptamtlichen Geschäftsführerinnen, reagiert darauf gelassen: „Sind nicht alle Menschen auf der Reise? Wir führen auf keinen Fall Fahrkartenkontrollen durch, wenn jemand sagt, dass er Hunger hat.“

Seit 14 Jahren arbeitet Hansen in der Bahnhofsmission. Die etwa 50-Jährige ist elegant gekleidet an diesem Tag. Viele hohe Tiere sind zur Einweihung gekommen: Sozialsenatorin Hilde Adolf, der stellvertretende Chef des Bahnhofsmanagements Peter Leßmann, Pastor Louis-Ferdinand von Zobeltitz von der evangelischen und Propst Ansgar Lüttel von der katholischen Kirche. Als die Prominenz wieder weg und der Medienrummel beendet ist, kommen auch die normalen Besucher wieder. Wie der blonde 16-Jährige. Seit einiger Zeit sucht er die Bahnhofsmission auf. „Wir müssen rauskriegen, was mit ihm los ist und eine Lösung suchen. Für junge Menschen kann der tägliche Besuch in der Mission nicht die Perspektive sein.“

Das künftige Konzept der Bahnhofsmission sieht vor, stärker „Hilfe am Gleis“ zu leisten. Also Reisenden zu helfen, denen die Fahrkarte abhanden gekommen ist, oder alleinreisende Kinder in Empfang zu nehmen. „Aufsuchende Hilfe“ nennt das Volker Jonas von der Bremer Caritas. Doch der Großteil der täglich 90 und jährlich über 26.000 Hilfesuchenden sind Alte, Arme, Verwirrte, Gestrandete. Im Jargon: Menschen mit „sozialen Schwierigkeiten“. „Die Bahnhofsmission war immer schon ein Spiegelbild unserer Zeit“, sagt Hansen. „Vor allem von ihren Schattenseiten.“

Die Bremer Mission existiert seit 1898. Mit der Neu-Eröffnung feiert sie zugleich ihren 103. Geburtstag. Anfangs half sie besonders den „weiblichen Dienstboten“. Später dann waren es Auswanderer. Menschen, die sich tagelang nicht gewaschen und nicht mehr zu verlieren hatten als ihre kleinen Kleiderbündel. Bis 1989 kamen reisende DDR-Rentner. „Wir haben ihnen Bananen in die Abteile gereicht“, erinnert sich Hansen. Heute sind es vor allem Stadtstreicher, Arbeitslose und Drogenabhängige. Von den Schattenseiten des Lebens kann Leiterin Hansen viele Geschichten erzählen: „Jeden Tag kommt ein älterer Herr aus Horn-Lehe zu uns. Früher war er obdachlos. Dann brachte ihn das Sozialamt in das Seniorenheim Haus Sonne. Dort kommt er wohl nicht so richtig klar. Jetzt ist er morgens häufig schon der Erste.“ Mit Suppe ist zwar Schluss. Warme Worte und Hilfe aber wird er auch weiterhin finden.

Thomas Gebel

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