Es hängt immer alles so zusammen, oder

Er hat den Dauerwellenapparat seines Großvaters ausgestellt, Unfallkunst, Reformkleider und natürlich die Großen der Moderne. Harald Szeemann, Schweizer mit britischem Pass, gilt als der beste Ausstellungsmacher der Welt. Sein Ideal: ein imaginäres Museum der Obsessionen

von NIKE BREYER (Interview) und SVEN BÄNZIGER (Fotos)

taz: Ihr Großvater Etienne Szeemann war Friseurmeister und hat Sie von Kind auf fasziniert. 1974 haben Sie eine Ausstellung über ihn gemacht. Der Name Szeemann ist ungarisch?

Harald Szeemann: Ursprünglich elsässisch, dann bayerisch. Als sie gegen die Habsburger waren, wurden sie in die Puszta verbannt. Mein Großvater hat erst in Budapest gearbeitet. Aber Wien war natürlich die Hauptstadt. So ist er nach Wien gezogen, dann nach Karlsbad. Später kam er nach Bern, wo es ihm gefiel, weil die Ungarn im Habsburgerreich immer Bürger zweiter Klasse waren. Die Schweiz gab den Anschein, dass vor dem Gesetz alle gleich sind, obwohl es natürlich dieselben spießigen Geschäfte sind wie überall. Dann war er Schiffsfriseur und kam bis nach Kapstadt und London. In London waren damals eigentlich alle großen Friseure. An der Bond Street. Da hat er immer die Nacht durch gepröbelt, an dem Dauerwellenapparat.

Am Dauerwellenapparat?

Mein Großvater war bis auf einen kleinen Schritt an der Geschichte dran. Ich habe diesen Apparat noch. Aber der im Nebenkeller, der Nestle oder Nestler oder wie der hieß, der war nicht Friseur, der war Erfinder. Der hat dann den ersten Dauerwellenapparat konstruiert.

Wunderbar!

Über Tortur zur Schönheit. Das ist eine alte Geschichte.

Hm.

Oh ja. Abmagern und so was alles. Ist alles über Tortur zur Schönheit. Das Korsett beispielsweise. Das wurde dann in dieser Zeit auch abgeschafft. Na ja. Weil nun mein Großvater Friseur war und die beiden bekannt waren, der Nestle und er, hat dann mein Großvater die erste Dauerwelle der Welt gewellt. Die dauerte Stunden. Bis er keine Haut mehr an den Fingern hatte und die Dame zwei Löcher im Kopf. Das kostete auch ein Wahnsinnsvermögen. So kam er zu etwas Geld. 1904 wurde dann mein Vater geboren in London. Deshalb habe ich auch einen englischen Pass. Was natürlich praktisch ist im Moment.

Praktisch?

Jetzt noch mehr, mit dem Nein der Schweiz zur Europäischen Union. Die Schweizer können jetzt nicht mehr so normal im Ausland arbeiten, oder. Nein, nein, wir sind Ausländer. Wie Albaner und Türken. Wenn ich in Deutschland bin, kümmert sich allerdings kein Mensch, ob ich einen Schweizer Pass habe oder nicht. Meine Großeltern kamen dann also mit ihren Söhnen 1906 in die Schweiz. 1919 wurden sie Schweizer. Um die Zeit hat er aus roten und weißen Haaren von seinen Kundinnen so ein Kreuz geschaffen.

Rote und weiße Haare?

Ja, ein Haarbild, oder. Das Wappen der Schweiz. Es gibt ja diese Haarbilder.

Hat er das erfunden?

Vorher gab’s das auch schon. In volkskundlichen Museen sehen Sie schon mal ganze Landschaften aus Haaren.

Aus Haupthaaren?

Na ja, es gibt auch die obsessiven Sammler wie Victor Hugo. Der hat sich jeden Tag von hier (sein Zeigefinger deutet zum Kopf), von da (Zeigefinger deutet Richtung Achselhöhle) und (Zeigefinger deutet in die Tiefe) von da unten eins weggezupft, in einen Umschlag gegeben, das Datum vermerkt und . . . Jo, wie geht’s? (zu einem groß gewachsenen, jungen Mann gewendet, der an den Tisch kommt) Bist wieder a mal auf . . .

Junger Mann: Ah, ich bitte um Entschuldigung!

Szeemann (erklärend): Victor Durschei, der Mann von der Pro Helvetia, der Schweizer Kulturstiftung in Genf.

Durschei (lachend): Bist du in Züri jetzt?

Szeemann: Ich muss heute Abend zurück. Ich war gestern in Stockholm. Jetzt habe ich ein Rendezvouz mit ihr (nickt über den Tisch). Weiß nicht, wie lang das geht.

Victor Durschei, der gerade das Zürcher Theater Spektakel organisiert hat und sich selbst als kleinen Schüler von Szeemann vorstellt, nickt und lässt sich am Nachbartisch nieder.

Victor Hugo hat sich also jeden Tag Haare ausgerissen.

Um später den Alterungsprozess via Haar festzustellen.

Er hätte sich malen lassen können.

Er war halt haarobsessiv. Es gibt Schuhfetischisten, es gibt Haarfetischisten. Es gibt alles auf der Welt, oder. Es gibt (blinzelnd auf eine vorausgegangene Korrespondenz anspielend, die sich um die Sandalen der Monteveritaner drehte) auch Sandalenfetischisten.

(fest) Sandalenfetischistin trifft es nicht ganz. Schuhe und Sandalen sind eher mein bevorzugter Forschungsgegenstand. Ihr Großvater war also haarobsessiv?

Neiiiiin. Aber da er Friseur war, hatte er halt ein Leben lang mit Haaren zu tun. Dann kann man die doch veredeln. Ich habe auch Haarbilder von ihm mit einer Burg und so etwas, auf einer Tribol-Kräutermundwasser-der-Welt-Scheibe.

Er hat Mundwasser beworben?

Neiiiiin! Er hat diesen Spiegel benutzt, wo Tribol draufsteht. Das waren damals die Reklamen. Die hingen als Spiegel in Friseursalons. Auf die andere Seite hat er da dieses Haar-Relief gelegt.

Kommen wir zu Ihnen. Mit der Schule waren Sie 1950 fertig?

Nö, die Matura hab ich 1953 gemacht. Ich blieb ja auch sitzen, oder.

Wie sich das für ein Talent gehört.

Nun gut, dann habe ich Kunstgeschichte studiert, nicht viel, sechs Semester. Das war das Minimum. Aber in dieser Zeit habe ich sehr viel gemacht. Da war ich Schauspieler. Habe Bühnenbilder gemalt. War ein Ein-Mann-Theater. Habe alle Texte selber gespielt.

Politisches Theater?

Jo, auch politisch. Aber es war, wie soll ich sagen, es war ein Initiationsprozess. Reichte vom ganz Vulgären bis zur Vergeistigung. Ein Individuationsprozess. Darunter, es waren sechzehn Nummern, gab es eben auch ganz komödiantische Dinge. Da hab ich also Shakespeare gespielt, Malvolio . . .

Shakespeare für eine Person?

Das war noch innerhalb einer Truppe. Die habe ich später eliminiert und Ein-Mann-Theater gemacht. Es ging mir einfach auf die Nerven, dieses Ensemble, oder. Verstehen Sie, es ist doch in allen Sekten dasselbe. Sobald einer mehr Mitglieder will, muss er sein Niveau herunterschrauben, damit seine Botschaft verstanden wird. Dann gibt es die guten Heiler. Die bleiben für sich. Die wollen gar keine Gemeinschaft. So kam ich mir ein bisschen vor. Leonard Steckel war damals am Schauspielhaus und hat mich gesehen als Malvolio und wollte mich als Schauspieler engagieren. Aber genau in diesem Moment wurde ich gefragt, ob ich in Sankt Gallen diese Ausstellung mache.

Als Sie Ihre Nummernrevue gaben.

„Heute rot, morgen tot“ hieß die. Da war natürlich dieser Wunsch, mich auszudrücken.

Als Sie studiert haben?

Dieses Studium . . . Nun gut, mit einem irrsinnigen effort habe ich’s dann fertig gemacht. Den Rest hab ich halt Theater gemacht und Ausstellungen eingerichtet und als Grafiker gearbeitet, um Geld zu verdienen.

1961 wurden Sie Direktor der Kunsthalle Bern. Was haben Sie sich einfallen lassen, um den Job als so junger Mensch zu kriegen?

Nix. Ich war so, wie ich bin. Das war’s genau.

Kannte Sie jemand vom Theater?

Mich kannte nur der Direktor der Kunsthalle. Der hat mir gesagt, dass er geht, und mir geraten, wenn du willst, kannst du dich ja melden. Ein anderer sagte, du bist nicht dafür geschaffen, weil: du hältst es nicht aus mit diesen lokalen Künstlern, wo sich jeder für den wichtigsten hält. Aber gut, ich hab mich dann beworben. Ich lebte ja damals in Paris, in diesem Pavillon, in dem Günter Grass die „Blechtrommel“ geschrieben hat, mit meiner Familie.

Haben Sie Kinder?

Drei. Enkelkinder hab ich auch, (kokett) ich bin uralt. (Im Hintergrund lacht Victor Durschei. Szeemann wendet sich ihm zu.) Die quetschen mich aus!

Durschei: Was wirst du noch erzählen?

Szeemann: Ich bin also mit dem Zug nach Bern, hab mich vorgestellt und bin wieder zurück nach Paris.

Studiert haben Sie in Bern?

Und in Paris. Einen Tag, nachdem ich hier abgeschlossen hatte, das Mündliche, sind wir nach Paris gezogen. Meine Frau, also meine erste Frau war aus Paris und wollte wieder zurück. Sie wissen ja, wie das ist mit den Bernern. Einer allein spricht immer französisch, aber wenn zwei zusammen sind, sprechen sie bernerdeutsch. Da ist die Frau frustriert, oder.

Hm.

Ab und zu bin ich nach Bern zurück, um die Leute anzupumpen, um weiterzuleben in Paris.

Wie haben Sie sich sonst über Wasser gehalten?

Schulden gemacht. Ja. Macht man heute. Ich musste dann leider alles zurückbezahlen, als ich Direktor der Kunsthalle wurde. Aber man lebt ja nicht, um reich zu werden, sondern um Dinge möglich zu machen, oder.

Bis 1969 haben Sie die Kunsthalle geleitet. Was war Ihr Konzept?

Ach, Konzept . . . Man musste natürlich immer ein Jahr im Voraus sagen, was man tut. Es gab eine Ausstellungskommission und es gab ein Budget. Aber ich wollte aus diesem Kunsttempel ein Laboratorium machen. Nicht mehr glorifizieren. So habe ich beispielsweise die geisteskranken Künstler zum ersten Mal ausgestellt. Oder die erste Ausstellung der Welt über Science-Fiction gemacht. Daneben Überblicke über die Tendenzen geliefert, wie Licht und Bewegung, über die kinetische Kunst oder Monochromie, also nur weiße Bilder von Malewitsch bis heute. So habe ich immer zuerst einen Überblick gegeben, das war vielleicht das Konzept, dann die einzelnen Figuren noch mal vorgestellt.

Wen haben Sie in der Science-Fiction-Ausstellung gezeigt?

Das waren alle, alle. Das war Film, das war Comic, das war Spielzeug, das waren Nasa-Objekte. Dann Kunst dazu. Ab und zu musste man einen aus Bern ausstellen. Ich habe immer versucht, die Jungen in die internationalen Ausstellungen einzubauen, wenn ich fand, dass sie dazu passen. Ich habe von Anfang an international gearbeitet. Lokales Zeug hat mich nicht interessiert. Dafür gibt es andere Institutionen, die das machen können. Allerdings gehörte die Kunsthalle Bern zu einundfünfzig Prozent den Berner Künstlern. Da gab es natürlich Friktionen, oder. Dann diese Ausstellung „When attitudes become form“. Da habe ich gespürt, dass da eine Revolution im Gange ist, mit der Studentenbewegung. Das fing schon 1967 an. Beuys hatte ja damals in dieser Science-Fiction-Ausstellung mitgemacht.

Bei Science-Fiction?

Natürlich. Sein erster Lebenslauf ist in dieser Zeitung. Ich habe damals keine Kataloge mehr gemacht, ich habe Zeitungen gemacht. Mir ging der ganze bibliophile Kack auf die Nerven, oder.

Der bibliophile Kack ist doch sehr nett. Da kann man was mitnehmen und nachlesen.

Lieber intensiv als auf Ewigkeit. Ich glaube, deshalb spricht man heute noch davon.

Die, die überlebt haben. Man sollte ja damals auch schnell sterben. „Live fast, die pretty“ oder so ähnlich.

Na ja gut. Das ist eben auch eine überlebte Form, dass man schnell sterben muss. Damals ging es ums Experimentieren.

Wie haben Sie die Künstler recherchiert?

Ich bin gereist. So wie jetzt diese Woche nach Valencia, nach Barcelona.

Mit dem Unterschied, dass Sie heute ein Star sind.

Schon 1966 stand im Express, wenn man sich informieren will über neue Tendenzen, muss man nach Amsterdam, Stockholm, Düsseldorf – und nach Bern.

Sie mussten Ihre Reisen nicht bewilligen lassen?

Ich hatte eine Technik. Ich fragte nie, wer ist dafür. Ich fragte immer, wer ist dagegen. Dann wagt niemand die Hand hochzuhalten. So muss man das machen.

Eigentlich ist das Thema Science-Fiction ja mehr an die Produktkultur gekoppelt als an die Kunst.

Deshalb hab ich’s ja gemacht, weil ich alles mischen konnte. Da gab es zum Beispiel diese berühmte Bibliothek in Lausanne von Pierre Versin. In Belgien hatte es diesen Sammler von Horrorfilmplakaten, in Paris den Jankowski und so weiter.

Sie haben auch immer wieder Ausstellungen über Lebenswelten gemacht.

„Attitude“ von 1969 beispielsweise war die Zusammenfassung eines neuen Geistes. Wenn Sie einigermaßen sensibel sind, spüren Sie, hier ist etwas Neues am Entstehen. Ich habe immer gesagt, es ist die Intensität, die mich interessiert, nicht der Stil.

Die Intensität, die Form wird . . .

Das war damals Protest. Gleichzeitig war das aber auch absolut positiv. In der Studentenbewegung gab es ja auch die Parole von der Imagination, die an die Macht soll, nicht mehr das Geld, nicht mehr Besitz. Das haben wir eigentlich immer versucht weiterzutragen. Das alte Monument war immer die Erhöhung von etwas. Jetzt ging es darum, eine andere Monumentalität zu schaffen, die aus dem Material gedacht ist, aus dem Gewicht, den physikalischen Gegebenheiten, und die weniger von der Kunst inspiriert ist, mehr von Ingenieuren und Brückenbauern. Immer wenn Aufbruchstimmungen sind, sagen die Künstler, ihr könnt mich mal.

In solchen Zeiten ist die Kunst aber auch immer unwichtig, weil das Leben zur Kunst wird. In Ihrer wunderbaren Ausstellung zum Monte Veritá haben Sie eine Gegenkultur dokumentiert, die in der aktuellen Ausstellung „Die Lebensreform“ im Institut Mathildenhöhe jetzt auch wieder gezeigt wird.

Das Tolle bei dieser Geschichte ist das Durcheinander. Es gibt kein Meisterwerk, sondern das Meisterwerk ist, dass alles mit allem zusammenhängt. Das ist die große Lehre aus dem Monte Veritá. Na ja, neue Konzepte leben . . . Das ist klar, oder. Das geht immer einher. Den Monte Veritá aufzuarbeiten, war in gewisser Form auch eine Antwort auf Achtundsechzig und auf diese Bewegung von einer Verbesserung der Lebensqualität in den städtischen Agglomerationen. Zu Beginn des Jahrhunderts, das war natürlich nietzscheanisch, hat man sich noch abgesondert, um durch die Absonderung ein Beispiel zu geben. Das hat sich geändert.

Man hat natürlich gehofft, dass andere mitmachen. Dabei gab es in diesen Kreisen auch sehr reaktionäre Ansätze.

Und das sehen wir auch wieder in der Kunst. Deshalb sage ich immer, die Kunst ist wirklich konzentriert, damit löst sie die Probleme.

Wo bitte löst Kunst Probleme?

Es gibt diesen Text für sich selber. Eigene Erkenntnis ist die halbe Problemlösung. Das hieß ja auch „Individualistische Kooperative vom Monte Veritá“.

Hm.

Also wenn Sie Mühl nehmen zum Beispiel, wie das innerhalb von einer halben Stunde von Anarchie in Faschismus überschwappt, da sehen Sie, wie nahe diese Dinge beieinander liegen. Wenn dann noch einer kommt, der dieses Gedankengut einsammelt, Hoher Meißner, Jugendbewegung und so weiter, dann findet das nahtlos seinen Weg . . .

. . . bei Paul Schultze-Naumburg zum Beispiel . . .

. . . dann geht das nahtlos in die Hitlerjugend über. Oder der Wagnerianismus, der dann umgedeutet wird. Auch das lehrt einen die Kunst. Es ist immer einer, der das durchmacht.

Nicht nur die Kunst, auch die Vordenker können einen das lehren. Die schreiben kluge Texte und bringen die anderen zum Nachdenken.

Ja, gut, aber die kommen hintennach.

Leute wie Peter Sloterdijk?

Sie sprachen von Turbokapitalismus. Dieser Zynismus des Kapitals, den haben die Künstler in den Achtzigerjahren vorgelebt. Da brauche ich nicht jetzt zu klagen, das wusste ich schon, dass das so wird. Nur sind die Künstler heute schon wieder sehr posititiv, indem sie Tabu-unabhängig operieren, im Grunde genommen schon wieder vorleben, wie man sich verwurzelt, um gleichzeitig der Globalisierung standzuhalten.

Wer bitte konnte den Mauerfall und seine Konsequenzen ahnen?

Natürlich. Gucken Sie doch Jeff Koons an, was der alles gemacht hat . . . Mich lehren Sie nichts mit diesen verbalisierten Geschichten. Das Nichtverbale war immer vorher. Man muss es nur lesen können.

Leben und Denken sind näher dran.

Das ist ja das Leben, wenn die Leute das Leben vorausnehmen, was in zwanzig Jahren kommt. Dann ist es doch schon gelebt. Über das Medium der Ausstellung habe ich das Mittel, die Dinge auszustellen, bevor Sie überhaupt verbalisiert werden.

Möglicherweise werden „diese Dinge“ erst Kunst in dem Moment, wo Sie sie ausstellen. Weil Sie eine Bedeutung, eine Botschaft in ihnen erkennen. Wie war das bei „Attitude“?

Der Titel war natürlich Programm, oder. Wenn Attitüden Form werden. Wobei Attitüde im Deutschen manieriert klingt. Aber es war einfacher zu sagen „quando gli attitùdine diventano una forma“, „when attitudes become form“, „quand les attitudes deviennent form“. Es gibt immer eine Sprache, wo es dann nicht stimmt.

Wie war das?

Es war doch so, dass die Studentenbewegung in Paris die vehementeste war in Europa. Die französische Regierung hat damals ziemlich viele Leute, auch Künstler, des Landes verwiesen. Ja, und wo kamen die hin? Nach Bern. Weil die Kunsthalle ein lebendiger Ort war. Dann kamen aber auch die Leute, die schon das Pompidou vorbereiteten und die natürlich regierungstreu waren. Die haben sich in Bern getroffen mit dem Effekt, dass die Ausweisung wieder rückgängig gemacht wurde.

Die „Attitudes“ meinten also Kunst?

Na ja, es gab so viele Dinge: die Wüste als Konzept oder die Verwendung der Kommunikationsmittel, um denen eine neue Dimension abzugewinnen. Das Telefon von Walter de Maria zum Beispiel, von dem nur er die Nummer hatte. Da saßen die Leute dann um das Telefon herum in der Ausstellung und warteten, um mit dem Künstler zu telefonieren. Der hat aber nie angerufen, weil wir ja kein Geld hatten, sondern erst um Mitternacht, wenn das Museum geschlossen war. Dann aber war er das lauteste Kunstwerk. Und draußen hingen die Hippies rum, von morgens bis abends. Das war nur logisch, oder. Gleichzeitig gab es Kreise, die sagten, wir haben neue Qualitäten, die arme Kunst, arte povera. In Italien war das sehr politisch, weil die meisten Künstler aus Turin kamen. Wenn die Kunst machten, waren das natürlich immer Positionen zu Fiat. Deshalb kam der Agnelli dann auch die Monte-Veritá-Ausstellung anschauen. Da hat er dann gesagt, diese Form von Generalstreik als kulturelles Machtmittel, das erlebe ich in meinem Betrieb, weil die Arbeiter nicht mehr Geld wollen. Sondern die wollen zwei Umdrehungen weniger machen am Laufband. Das hat mich immer interessiert, dass das alles so ineinander greift. Dass man das dann über die Kunst oder über die Aufarbeitung von Utopien sichtbar machen kann. Andere schreiben Bücher, ich mache Ausstellungen.

In denen Sie das Präsentierte mit Thesen fermentieren.

Das geht doch alles zusammen. Nach Bern habe ich mich in Köln 1970 mit Happening und Fluxus befasst, wo das ja das Thema war, Kunst gleich Leben. Dann wurde ich 1972 berufen, die documenta aus dem Dreck zu ziehen gewissermaßen. Da gab es dann auch alles. Es gab Science-Fiction, es gab utopisches Design, Banknotendesign. Ich habe zum ersten Mal die Spiegel-Titel ausgestellt. Es gab politische Propaganda. Es gab Kitsch. Es gab religiöse Volkskunst. Verstehen Sie? Das war wie ein Gang durch viele Bildwelten.

Yes.

Dann waren da natürlich die Bilder, die lügen, die Reklame. Wenn man Papani-Sekt trinkt, wozu man hier aufgefordert wird (deutet auf ein Reklameposter an der Wand), wird Ihnen die Frau auch nicht immer so zuprosten, oder. Für mich war die Ausstellung „Großvater“ wie . . ., vier Monate konnte ich in dieser Wohnung sein Leben rekonstituieren.

Was hat Sie an seiner Person so begeistert?

Jo, als Haarpionier und Haarkünstler fand ich den natürlich sensationell. Dann hat er auch gesammelt. Er hat vor allem viele Bilder hinterlassen. Nach dem großen, brutalen Auftritt für den Ruhm, dann der Rückzieher ins Intime, verstehen Sie. Gleichzeitig gab es die Möglichkeit zu neuen Präsentationsformen. Eine Brennschere ist keine Kunst. Also musste ich eine bestimmte Stellung wählen. Das geht um Millimeter. Lege ich das so (legt seinen Kaffeelöffel neben der Tasse in eine gerade Position), dann ist es hierarchisch, oder so (Kaffeelöffel in Schräglage), dann müssen Sie es in Verbindung setzen mit etwas anderem. Da habe ich ziemlich lange dran rumgeknübelt. Aber alle die Damen, die er noch frisiert hat, die kamen und haben auf ihn gewartet. Die Ausstellung hat suggeriert, dass er noch lebt. Drum ist die Ausstellung auch etwas zum Überleben.

Haben Sie sich damit auch von der documenta erholt?

(lacht) Da gab’s nichts zu erholen. Ich meine, Sie machen auch ihr Leben spannender, wenn sie die Polaritäten ausnützen. Ich lebe ja vom Ausstellungenmachen. Das pulsiert wie Leben.

Der Bergsteiger Heinrich Harrer hat gesagt, das Beste im Leben sind die Gegensätze: eine Nacht im Waldorf Astoria und die nächste im ewigen Eis am Nanga Parbat.

Wenn Sie die Kunst um die Nichtkunst erweitern, erweitert sich auch die Kunst, erweitert sich Ihr Interessenfeld. So habe ich 1991 zur Siebenhundertjahrfeier die Ausstellung „Visionäre Schweiz“ entwickelt. Nicht mehr eine blöde Ausstellung von Hodler bis Klee und Tinguely, sondern von einem visionären Standpunkt aus. In dem Moment können Sie dann den Henri Dunant reinnehmen, den Erfinder des Roten Kreuzes, der die Menschen über die Musik verbessern wollte. Der österreischische Kulturminister sah die Ausstellung in Spanien und fragte mich: Könnten Sie sich so etwas über Österreich vorstellen? Und ich habe geantwortet: Ja, ich kann es mir nur in drei Ländern vorstellen. Ich kann nicht sagen: visionäres Deutschland, das ist entsetzlich. Ich kann nicht sagen: visionäres Frankreich, das ist auch fürchterlich. Visionäres Italien geht auch nicht. Ich kann aber sagen: visionäre Schweiz, weil die Strahlung der Alpen da ganz andere Dinge hervorgebracht hat. Österreich kann ich auch machen und Belgien, weil hier die Revolution auf dem Theater begonnen hat. Holland nicht, Holland ist keine Nation, das ist eine Gesellschaft und so weiter. Höchstens noch England. Aber da ist es mehr der Spleen, oder. Das sind neue Ansätze, dieses so genannte Nationale anders zu sehen. So machte ich diese Ausstellung „Austria im Rosennetz“, und wenn Sie den Text lesen, dann basiert das alles auf der Herkunft aus diesem Kaka . . .

Kaka . . .?

Kakanien. Es hängt immer alles zusammen, oder. Aber gut, ich muss dann eine Form finden, dass es auch von denen als innovativ gesehen wird, die diesen Hintergrund gar nicht kennen. Die, die ihn kennen, die haben dann noch eine Dimension mehr, wenn sie die Ausstellung besuchen. Wie das Leben so ist, oder. Einige lesen nur Kriminalromane und die anderen auch anderes.

Über die Herkunftsgeschichte zu einer neuen Sicht des Nationalen.

Schon als ich von Bern wegging, nannte ich mich „Agentur für geistige Gastarbeit“. Was natürlich eine Sympathiebezeugung war gegenüber diesen Gastarbeitern mit minderen Rechten. Außerdem wollte ich ja nie mehr angestellt sein. So sagte ich, ich stehe im Dienst eines Museums der Obsessionen. Denn das kann es nie geben, oder. Die Obsession erfüllt Sie im Leben. Aber Sie können die nicht ausstellen.

Die haben Sie doch ständig ausgestellt!

Das sind nur temporär formulierte Annäherungen.

Wann haben Sie dem in Tegna ein Zuhause gegeben?

Dieses Zuhause bin ich, oder.

Ich meine, wann sind Sie nach Tegna gezogen?

Ich habe mich halt verliebt und lebe da, wo die Frau ist. Ich bin ein moderner Mann, oder. Ich brauche auch nicht im Tessin zu leben, ich kann auch im Hotel wohnen.

Aber Sie haben sich durch das Monte-Veritá-Projekt mit diesem Ort verbunden.

Wenn Sie schon an einem neuen Ort sind, dann müssen Sie auch einen neuen Blick drauf werfen. Das ging aber zusammen mit etwas anderem. Nachdem ich damals in den Siebzigern abgelehnt habe, noch eine Institution zu übernehmen, weil immer neunzig Prozent der Energie in die Verwaltung geht, in Sitzungen und diesen ganzen Scheiß, ich gleichzeitig aber weiter Ausstellungen machen wollte, musste ich Ausstellungen erfinden, die die anderen nicht konnten, oder. Das war dann „Junggesellenmaschinen“, „Großvater“, „Monte Veritá“ und der Hang zum Gesamtkunstwerk. Eigentlich schon bei Monte Veritá hat mich das Kunsthaus Zürich angesprochen, ob ich nicht als frei hängender Ausstellungsmacher . . . Mir kam das eigentlich sehr recht.

Ihre Ortsforschungen in Tegna . . .

Die begannen eigentlich schon 1964, als ich diese Ausstellung machte über sämtliche Unfälle und Wunder. Das war inspiriert von der Idee, dass es eine Malerei gibt, die nur aus Unfällen lebt. Wenn der Unfall passiert war und der Mann ist heil davongekommen oder die Frau oder das Kind, haben sie auf einen alten Typ des Votivbildes zurückgegriffen und diesen Unfall geschildert und gleichzeitig die Heilige gezeigt, die das Wunder bewirkt hat. Eine sehr interessante Geschichte. Das dauerte vom 13. Jahrhundert bis . . . Das Letzte, was ich hatte, war zum Untergang der „Andrea Doria“, 1956. Da hab ich natürlich alle Kirchen abgeklappert.

Im Tessin.

Und in der Schweiz, in Bayern, in Südfrankreich, auf der Suche nach diesen Exvotos, den Gelöbnisbildern. Auch da ist es dann wieder so, je intensiver der Dargestellte an das Wunder geglaubt hat, desto besser war sein Bild. Also hatten sie wieder die Intensität drin und nicht den Stil. Mein ganzes Leben war ich ja dran, Stilgeschichte über den Haufen zu werfen.

Von hier aus weiterzudenken, über den Unfall im Leben des Menschen, des Künstlers, zum Unfall in der Kunst selbst – man verschüttet Terpentin und heraus kommt ein neues Actionpainting –, hat Sie nicht gereizt?

In einer protestantischen Gegend wie Bern eine solche katholische Ausstellung zu machen, war natürlich schon mal in sich doppelt beleidigend.

Aber der existenzielle Schock, das schlägt sich nieder.

Ja doch, jede Krankheit, jede . . . Bei Beuys war es dieser Absturz zu den Tartaren und so weiter. Aber es muss dann Kunst werden, dass es für sich spricht und nicht über die Biografie. Das andere ist Literatur. Ich meine, alle Leute sagen, über die Krankheit habe ich zu einem neuen Bewusstsein gefunden und so weiter. Es gibt ja auch viele Künstler, die bleiben dann ewig in der Krise. Das ist dann nicht mehr interessant, immer die Krise zu zeigen, oder.

Weniger.

Eben. Und wenn Sie eine Krise überwunden haben, dann wollen Sie nicht mehr dran erinnert werden, weil Sie einen neuen Bewusstseinsstand erreicht haben. Aber das ist alles . . . psychologische Kakerlaken.

So sind Sie über Exvoto in die lokale Geschichte von Ascona eingetaucht.

Was mich natürlich beeindruckt hat, war, dass ich sofort spürte, das ist ein besonderer Boden. Meine Anfrage beim Kantonsgeologen hat dann das auch bestätigt: dass das wirklich die magnetisch anomalste Zone der Schweiz ist. Wie mein Magnetismus auf diese Anomalie reagiert, da wird es für mich interessant.

Durch die Ausstellung haben Sie diese Reaktion dann objektiviert, zum Objekt gemacht.

Na ja, wissen Sie, es war doch so: Als ich diese Ausstellung machte, fand ich den Taut für zweihundert Mark bei einem Antiquar in Berlin. Dann hab ich mir überlegt, soll ich jetzt Schulden machen und den kaufen, dann hab ich ihn zur Verfügung. Oder soll ich eine Leihkorrespondenz anfangen? So hab ich eben ziemlich viel zusammengekauft. Ich hab ja eigentlich mit dieser Ausstellung alles, was ich verdient habe über vier Jahre, verloren. Na ja, ich meine, das ist ja jetzt da, Gott sei Dank. So konnte man diese Museen einrichten.

Sie haben die Sachen selbst gekauft?

Ich hatte ja keine Unterstützung. Ich hatte dann natürlich Glück, wie immer, einen Sammler zu finden, der beraten werden wollte. Ich hab ihn ja auch angeführt als Sponsor.

Wer war das?

Das sag ich Ihnen nicht. Sie können ja den Katalog lesen, da steht er drin.

Ihr Museum der Obsessionen ist heute ein Archiv?

Was heißt Archiv? Das ist einfach ein Riesenpuff, oder. Aus diesem Puff hab ich dann die Museen auf dem Monte Veritá eingerichtet.

Bei den Monteveritanern hat sich die Gesinnung auch in ihrem Äußeren formuliert. Finden Sie interessant, wie Leute sich anziehen?

Ich habe eine sehr aufgeweckte Tochter von 26 Jahren. So nehmen Sie automatisch daran teil, oder. Van de Velde hat damals diese Reformkleider entworfen. Von da bin ich dann auf die Fotos von Mila Webel in Reformkleidung gestoßen. Da sieht man die Eurhythmie und so weiter. Aber das Bündel an Reform macht es ja erst interessant, nicht nur die Kleidung. Die ist ein Nebenprodukt.

Ziehen Sie trotzdem Ihre Schlüsse?

Ich bin immer erfreut, wenn’s passt, oder. Sehr viel passt nicht. Die Mehrheit passt nicht.

Passt nicht?

Nein. Ist aber eigentlich schnuppe. Soll sich jeder anziehen, wie er mag. Die Freiheit hat ja jeder heute. Das scheint mir viel wichtiger, als wie er angezogen ist.

Sie haben mal ein Paar Sandalen auf einem Markt in Civitanova gekauft . . .

Ja, ja, ich lebte lange dort und ging immer auf den Schuhmarkt. Das war in den Siebzigerjahren. Da hab ich dann dieses Paar entdeckt, ein Prototyp, der nicht in die Produktion ging. Eigentlich eine Sandale, aber dann mit dieser Verschnürung . . . alles Leder.

Tragen Sie die noch heute?

Deshalb sind sie ja beim Schuhmacher. Ich hab die jetzt sechs Wochen angehabt, zur Einrichtung der Biennale. Da sind sie jeden Tag ihre zwölf bis fünfzehn Kilometer unterwegs, und jetzt sind sie durch. Sie waren noch nicht fertig, obwohl ich wusste, Sie sind heute hier. Ich hätte auch lieber die angezogen.

Sind Sie mal darauf angesprochen worden?

Alle finden diese Schuhe genial. Jeder, der das sieht, sagt, wo hast du die her? Und ich sage, es gibt nur die. Mich interessiert das aber nicht so, viele Schuhe zu haben. Ich hab noch so grüne, aber die sind auch durchgelatscht, und rote.

Haben Sie neue Projekte?

Ich arbeite an diesem Pavillon „Geld und Wert. Das letzte Tabu“ für die Schweizerische Landesausstellung in Biel 2002. Gestern habe ich dafür in Stockholm die größte Münze und die erste Banknote der Welt ausgeliehen. Es wird ein goldener Pavillon werden, und in der Mitte wird permanent Geld vernichtet.

Verbrannt, zerstückelt . . .

Zerstückelt. Wir können es nicht verbrennen wegen ökologischer Überlegungen. Eine sehr komplexe Sache. Das bedeutete ein Jahr Verhandlungen. Aber das ist natürlich sensationell, im Pavillon der Nationalbanken wird das Geld vernichtet.

Wird Geld auch anders beleuchtet?

Natürlich, die Leute können am goldenen Pavillon das Gold abkratzen. Dann gibt es die archaische Wertschöpfung, also die Künstlerscheiße, die heute eine Millionen Dollar wert ist, und 1961 war es nur Kacke, oder.

Fata Morgana kann man dazu auch sagen.

Nix Fata Morgana. Das ist archaische Wertschöpfung. Wenn Sie scheißen, tun Sie das in eine Büchse, signieren und zwanzig Jahre später ist es eine Million wert, weil der Name . . . Ich meine, ein größeres Beispiel können Sie kaum bringen. Dann zeigen wir die Kreislauftheorie, nach der die Geldzirkulation wie der Blutkreislauf funktioniert und wie die Verdauung. Die permanente Verunsicherung mit Dollar, Yen, Euro und die Bedürfnisse des alltäglichen Lebens, auch das schnelle Geld. Und dreams that money can not buy.

The last taboo.

Und an der Decke passiert mit diesen Plastikrohren, die Sie jetzt an jedem Schalter haben, dieses suck and blow – Geldkreislauf real. Doch, doch, ich glaube, es wird ganz gut.

NIKE BREYER lebt als freie Autorin in München. Derzeit arbeitet sie an einem Ausstellungskonzept über die deutsche Schuhmarke „Sioux“ SVEN BÄNZIGER lebt als Fotograf in Zürich