Im Schreiben wohnen

„Ich will verschwinden hinter meiner Biografie, im Vordergrund steht die Bibliografie“: Die österreichische Dichterin Friederike Mayröcker wird mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet

von DIEMUT ROETHER

„Im Schreiben zu Haus“ nannte die Fotografin Herlinde Koelbl ihren Bildband über Schriftsteller und ihre Arbeitsplätze. Wer die Fotos der Wohnung der österreichischen Dichterin Friederike Mayröcker gesehen hat, weiß: Hier haust eine buchstäblich im Schreiben. Die Waschkörbe mit Notizen und die „Papierwucherungen“ im Arbeitszimmer der Dichterin sind legendär. Sie selbst hat sie oft genug in ihren Texten beschrieben, das lyrische Ich rückt sie in ihrem Roman „brütt oder Die seufzenden Gärten“ sogar kokett für den Fotografen ins rechte Licht: „also ließ ich alles verstreut, auf dem Fußboden, auf Tischen und Schränken, 1 wenig um anzugeben mit diesem Phönix Buch Original Buch, um anzugeben mit diesem Urwald“. In den Achtzigern, so berichtet der Schriftsteller Thomas Kling, schmückten die Aufnahmen aus Mayröckers Wohnung in der Zentagasse 16 zahlreiche Wiener Szenelokale – und der Urwald ging ein in die Ikonografie intellektuellen Lebens. Ein „nach außen gestülptes Gedächtnis“ nannte ein Besucher das „Zettel-Bild-Chaos“ der Schriftstellerin.

Friederike Mayröcker hat oft gesagt, sie könne nur in ihrer Wohnung wirklich arbeiten. Inmitten dieser Papierwucherungen ist in den vergangenen fünfzig Jahren ein einzigartiges Werk entstanden: Prosa und Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke. Mayröcker sagt, sie brauche das Schreiben zum Leben wie das Lesen: „Ich kann mich nur schreibend realisieren.“

Die Dichterin geht nicht ohne Notizblock aus dem Haus. Darin notiert sie, was ihr einfällt, was sie „mit den Augen greift“. Zu Hause, an der Hermes Baby, der Schreibmaschine, die sie ein Dichterinnenleben lang begleitet hat, beginnt die Arbeit an dem Material, der mühevolle und beglückende Prozess des Sätzebildens, Verwerfens und Umschreibens, bis „der liebe geschätzte Leser“ am Ende Zaungast sein darf. Denn Friederike Mayröcker hat eine hohe Meinung von ihrem Leser. Sie mutet ihm viel zu, denn Lesen ist für sie „wie das Schreiben (das Beten) eine heilige Handlung“. Ihre Technik, Notizen, und Assoziationen zu Texten zu verweben, Ideen und Gedanken zu umkreisen, ist einzigartig. Immer wieder fällt sie sich beim Schreiben selbst ins Wort, korrigiert sich, rückt ein Bild zurecht oder lässt sich durch einen fiktiven Gesprächspartner belehren.

Auch in ihren Romanen ist Friederike Mayröcker nicht darauf aus, eine Geschichte zu erzählen. Im Gegenteil: „Wo immer sich eine Story am Horizont des Bewusstseins zeigt, breche ich sofort ab“, sagt sie. Die Sprachartistin ist eine disziplinierte Schreiberin und eine besessene zugleich: „Nein, Ideen habe ich keine beim Schreiben, sage ich, du musst etwas wagen wenn du arbeitest, sage ich, du musst etwas einsetzen, nämlich dein Leben, deine Gesundheit, du musst tollkühn vorgehen, ich glaube tollwütig“, heißt es am Anfang von „brütt oder Die seufzenden Gärten“. Gut 300 Seiten später endet der Roman mit den Worten: „Weil wenn du nicht tollkühn bist, tollwütig, geht gar nichts, 1 tollwütiger Hund um schreiben zu können, nicht wahr, rufe ich Blum zu, tränenreicher Tumult, schreckliche Raserei, ja, und das ist vielleicht schon alles, das ist vielleicht schon das Ende, weil nämlich, wie Paul Valery sagt, der wahre Schriftsteller 1 Mensch ist, der seine Worte nicht findet.“

Seit mehr als fünfzig Jahren lässt sie nicht nach in der Suche nach ihren Worten. Bis 1969 unterrichtete die Schriftstellerin als Fremdsprachen-Oberlehrerin Englisch an einer Wiener Hauptschule, dann ließ sie sich vom Schuldienst beurlauben und konnte endlich auch vom Schreiben leben. Thomas Kling berichtet, ein einziges Mal habe er aus dem Mund der „bedeutendsten lebenden deutschsprachigen Dichterin“ das Wort „Scheiße“ gehört: „Sie sprach vom Scheißunterrichten, bei dem sie sich die Stimmbänder ruiniert habe.“

Gemeinsam mit ihrem „HAND- und HERZGEFÄHRTEN“ Ernst Jandl schrieb Mayröcker in den Sechzigern mehrere Hörspiele, dann beschlossen sie: „Jetzt reicht's“. Ihr Leben beschrieb Jandl als „ein gemeinsames, ohne gemeinsame Wohnung und ohne Kochtopf“. Nach dem Tod Jandls im vergangenen Jahr schrieb die Dichterin besessener denn je. Ihr jüngstes Werk, „Requiem für Ernst Jandl“, ist ein Dialog mit dem Toten und auch eine Auseinandersetzung mit der Angst vor dem eigenen Tod: „jammervoll ist der Tod, erbärmlich ist der Tod . . . 1 Zerbrecher und Zerstörer ist der der Tod“.

So wie Friederike Mayröcker den Storys und der „ROMANHAFTIGKEIT“ misstraut, hat sie auch für ihr eigenes Leben die „Biografielosigkeit“ verkündet: „Ich will verschwinden hinter meiner Biografie, im Vordergrund steht die Bibliografie.“ Das lyrische Ich ihrer Gedichte und Romane darf zwar nicht mit der Dichterin verwechselt werden, dennoch wirken viele ihrer Werke wie Selbstporträts der Lautmalerin im Wortsteinbruch. Und wer könnte das Leben der Dichterin besser beschreiben als sie selbst in ihrem Gedicht „dieses Jahrhundert“: „im 24. Winter dieses Jahrhunderts hat es mich plötzlich gegeben : (1 Sturz in die Zeit), dann als WANDERPOET durch die Jahre, Jahrzehnte; fast 1 Rekord ist zu lesen in seinem Auge, wenn ich es anblicke, wenn ich zurückblicke auf dieses Jahrhundert“. Kaum zu glauben, dass die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung so lange gewartet hat, um die „bedeutendste lebende deutschsprachige Dichterin“ mit dem Georg-Büchner-Preis, dem bedeutendsten deutschen Literaturpreis, zu ehren.