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Die Milch macht eine helle Zukunft

Das Café Sibylle an der Karl-Marx-Allee hat wieder eröffnet. Für seinen „Schweden-Eisbecher“ war es berühmt. Nach der Sanierung glauben die Inhaber wieder an die gute Kraft von Eis und Kuchen. Ein Besuch in der ehemaligen Milchtrinkhalle

von KIRSTEN KÜPPERS

Das „Café Sibylle“ ist wieder da. Ein gelber Schriftzug leuchtet mutig in den Herbst, strahlt in der Hoffnung auf unternehmerisches Glück. Eine Investition in die Gastronomie Friedrichshains, einer der ärmsten Gegenden der Stadt.

Von der Neueröffnung des Café Sibylle in der Karl-Marx-Allee hatte man durch einen lokalen Fernsehsender erfahren. Der Beitrag zeigte historische Bilder aus den 50-er Jahren. Als die Straße noch Stalinallee hieß. Damals hatte das Sibylle als „Milchtrinkhalle“ aufgemacht. Kühle Getränke für heitere Menschen an warmen Sommertagen. Mit weißen Hütchen aufgemachte Serviermädchen eilten umher, die Milch wurde am eleganten Tresen gezapft.

Auch alte Leute traten in der Sendung auf. Ehemalige Kellner erzählten von üppigen Eisbechern und zufriedenen Gästen, fesch und modern sei die Milchbar früher gewesen. Ja, die Arbeiter der jungen DDR hatten mit der Stalinallee eine Prachtmeile gebaut. Und Milchgetränke und Sahnetorten versprachen dem Volk eine helle Zukunft.

Seit dem 13. Oktober dieses Jahres glaubt man im Café Sibylle wieder an die gute Kraft von Eis und Kuchen. Ein Anfang jetzt, wo der Herbst kommt. Die Geschäftsführung hat neue Stühle und Tische gekauft, verspielt ziehen original 50er-Jahre-Motive über die Wände, der Gastraum ist komplett renoviert.

Und doch kommen seit der Eröffnung vor allem die alten Kunden ins neue Sibylle. Männer, denen Krücken zur lästigen Gehhilfe geworden sind und Frauen mit zierlichen Vogelgesichtern. Vorsichtig ziehen sie die Börse aus dem geblümten Stoffbeutel, die Käsetorte in der Leuchtvitrine ist frisch.

Nach der Wende hatte das Café Sibylle dichtmachen müssen, weil die Leute andere Sorgen hatten, als ihr Geld in Süßigkeiten anzulegen, weil die Mittel für die Modernisierung der Gasträume fehlten, und weil das Lokal mitgerissen wurde vom Sog der Pleitewelle in der Nachbarschaft. Die Löcher in den Keramikfassaden der Karl-Marx-Allee wuchsen bedenklich.

1993 wurde ein Kapitalgeber gefunden, die Friedrichshainer Wohnungsbaugenossenschaft verkaufte die denkmalgeschützten Wohnblocks an die Deutsche Pfandbrief- und Hypothekenbank AG (Depfa). Mit einem Investitionsvolumen von rund einer Milliarde Mark sanierte die Bank zwölf der 14 Gebäude. Das Land Berlin schoß Geld dazu.

Die aufwendige Renovierung der zweieinhalb Kilometer langen Straße hat Jahre gedauert. Aber heute preisen die Immobilienmakler ihren Kunden die Karl-Marx-Allee wieder als stolzen und prächtigen Boulevard. Vereinzelt zogen junge Medienschaffende und Ministerialbeamte aus dem Westen in die Wohnungen ein. Viele Ladenräume stehen weiterhin leer.

Erich Kundel ist jedoch ein Mann, der ins Unternehmerische aufbricht. Er ist der Inhaber des neuen Café Sibylle. Und seine Pläne für die Zukunft des Etablissements sind konkret: Informationen für Touristen soll es geben, Kulturprogramm sowie einen Fahrradverleih, dazu eine Dauerausstellung zum historischen Baudenkmal. Alles in den Räumen des Café Sibylle. Vorgesehen ist „einfach ein lebendiger Ort“.

Kundels eigene Erinnerungen an das alte Sibylle fallen in die 60-er und 70-er Jahre. Da blätterte das Gesicht der Karl-Marx-Allee bereits, ein Geschäft mit Jeanshosen war die einzige Attraktion. Damals sei das Sibylle eine biedere Kaffeestube gewesen, meint Kundel. Für seinen „Schweden-Eisbecher“ berühmt und sonst nichts. In der Nacht soll sich die Gaststätte allerdings zum „Weinlokal und Treffpunkt für amouröse Verhältnisse“ gewandelt haben. Ganz sicher ist sich Erich Kundel mit dieser Information allerdings nicht. „Leichte Mädchen hat es ja in der DDR nicht gegeben.“ Aber der Sibylle-Schriftzug „war für DDR-Verhältnisse schon ungeheuer kühn“, Kundel atmet bedeutungsvoll durch.

Seit der Wiedereröffnung sitzen jetzt manche Rentner morgens schon im Café Sibylle. Der Fensterfront haben sie einen steifen Rücken zugewandt. Als könnten sie so die Gegenwart aussperren. Sie sitzen und sitzen und trinken Kaffee. Man weiß nicht genau, ob den alten Leuten das neue Lokal wirklich Freude bereitet. Vielleicht taugt das Sibylle auch nur für eine Erinnerung, einen Moment, der den Kopf frisch hält in einem Leben, das für Abwechslung zunehmend undurchlässig scheint.

Zweimal im Monat findet im Café Sibylle freilich Ablenkung statt. Am Mittwoch singt eine Liedermacherin „über Lebensvorstellungen, die man mal hatte und was von all dem noch übrig ist“, sagt ein Plakat. Erich Kundel erzählt von der peruanischen Panflötengruppe, die vergangene Woche aufgetreten ist. Und der Friedrichshainer Selbsthilfeverein kleinwüchsiger Menschen hat für November bereits eine Modenschau angemeldet. „Eben ein lebendiger Ort“, wiederholt Kundel.

Beim Verlassen des Cafés sieht man auf der gegenüberliegenden Seite der Karl-Marx-Allee noch andere Spuren von Leben. Eine alte Frau in einem rosafarbenen Mantel. Die Frau hat sich zurechtgemacht, bevor sie vor die Tür getreten ist: die weißen Haare sind sorgfältig frisiert, der Lippenstift leuchtet rosa wie der Mantel. Schmutzige Blätter wehen über die Karl-Marx-Allee, die Frau steht allein auf dem herbstkühlen Bürgersteig. Sie steht einfach nur da und schreit in die Luft.

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