: Musikerhölle mit Kannibalen-Option
■ Laurent Chetouane inszeniert am Schauspielhaus Normand Chaurettes „Der kleine Köchel“
„Zurück nach B-Dur!“ brüllt die Pianistin Lili Motherwell. Die Ordnung muss eingehalten werden, denn wer aus dem Takt kommt, verliert am Ende die Gewalt über das eigene Leben. Es ist ein tristes Einerlei, das sie und ihre Schwester Cécile leben. Der kleine Köchel heißt das Stück des Kanadiers Normand Chaurette. Im Malersaal des Schauspielhauses brachte jetzt der Belgier Laurent Chétouane die deutschsprachige Erstaufführung heraus.
Die lebensfernen Musikerkreise kommen dabei nicht gut weg. Die Figuren Chaurettes sind von der Liebe zur Kunst besessene, einsame Wesen. Die verhärmten Schwestern Motherwell lassen sich von einem weiteren schrägen Schwes-ternduo, den Musikwissenschaftlerinnen und Mäzeninnen Anne und Irène Brunswick, aushalten.
Alle vier hüten ein grausiges Geheimnis, das sich im Keller verbirgt. Dort haust der, den sie alle „ihren Sohn“ nennen, und widmet sich der hehren Musikkunst. Und die verlangt Opfer. Zwischen der von Ursula Doll hysterisch interpretierten Lili und ihrer abgeklärten Schwester Cécile (Ilse Ritter) geht es um die Einhaltung von Ritualen. „Wir haben nur schwarze und weiße Tasten in unserem Leben gesehen“, sagt Lili. Der einzige Gegenstand, den sie wirklich „in der Hand“ haben, sind ihre Klaviere.
Unklar ist, ob die Schwestern leben oder schon tot sind. Als Anne, eine der Vermieterinnen, auftaucht und fragt: „Muss ich Ihnen jetzt schon enthüllen, dass die Heifetz-Zwillingsschwestern vermisst werden?“, wird klar, wir sind mitten in einem Stück, das bereits wiederholt wird. Die Gespräche drehen sich im Kreis.
Erst gegen Ende entgleiten die Dialoge in einen absurden Humor, wenn etwa Marlen Diekhoff als strenge Irène beklagt, dass „unterschwellige Elemente in den Gegenständen aktiv“ seien. Es ist ein wichtiger Tag: Der Sohn hat beschlossen, sich zu erhängen. Die „Mütter“ nehmen das gelassen hin. Doch der Sohn entpuppt sich als Kannibale, der erst die vermissten Zwillingsschwestern verspeist hat und nun seine „Mütter“ straft, weil sie ihm den großen Mozart vorgezogen haben. Als Liebesopfer müssen sie ihn nicht nur verspeisen, sondern alljährlich alle Ereignisse des Tages genau wiederholen.
Für die vier scheint es kein Entkommen zu geben. Cécile Motherwell gibt sich zwar renitent, fällt aber nicht aus der Rolle. Einzig Anne Brunswick (Edith Adam) will nach Indonesien fliehen. Vergebens. Bei Chaurette siegt am Ende die Kunst über das Leben. Zum Glück ist das nur Theater.
Annette Stiekele
nächste Vorstellungen: 2., 8., 9. November, 20 Uhr, Malersaal
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