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Nerelisin hemșerim?

Woher stammst du, Landsmann? Die Frage der Herkunft spielt für türkischstämmige Berliner eine große Rolle. Vor allem untereinander. Die unverfänglichste Antwort lautet: Ich komme aus Istanbul. Auch nach fast 40 Jahren in Spandau

von ALI YILDIRIM

Heimat? Ja, Spandau natürlich. Immerhin wohne ich seit über zwanzig Jahren mit meiner Frau und meinen beiden Töchtern dort. Auch meine Mutter ist inzwischen zu uns gestoßen. Und einige Straßen weiter lebt mein eingedeutschter Bruder mit seiner Tochter. Es gefällt mir, im Umgang mit meinen urdeutschen Berliner Freunden den Lokalpatrioten zu spielen. Denn ich stehe gern auf der Seite der selbstbewussten Kleinen.

Sehr viel Gelegenheit, den Spandauer zu betonen, habe ich aber nicht. Denn meine türkischen Landsleute interessiert das herzlich wenig. Ob im Gerichtssaal, wo ich die Hälfte meiner Zeit als Dolmetscher verbringe, oder in meinem zweiten Beruf als Journalist, sie stellen mir immer die gleiche Frage: „Nerelisin Abi?“ (Woher kommst du, Bruder?) Und dann gilt es, die Antwort genau abzuwägen. Nicht selten hängt der weitere Verlauf des Gesprächs davon ab. „Ich komme aus Istanbul“ ist die unverfänglichste Variante. Sie hat den Vorteil, dass sie stimmt, aber nichts aussagt. Ein Istanbuler kann schließlich hemșeri (Landsmann) eines jeden Türkeistämmigen sein, oder auch nicht.

Mit den Jahren in Deutschland lernte ich, dass es ab und zu von Vorteil sein kann, sich deutlicher zu identifizieren. Ein alter Freund meines Vaters verhalf mir zu dieser Erkenntnis, als er mich in Berlin besuchte. Er hatte mich gefragt, ob meine Frau „eine von uns oder eine Fremde (yabanci) sei“. „Natürlich ist sie eine von uns“, sagte ich ihm, denn auch meine Frau stammt aus Istanbul, ist also keine Deutsche. Enttäuscht von dieser Antwort, klärte mich mein hemșeri darüber auf, dass mein Vater aus Hacibektaș stamme und ich demzufolge auch. Nun muss man wissen, dass Hacibektaș eine Hochburg der anatolischen Aleviten ist – einer kulturell-religiösen Minderheit in der Türkei. Und somit war ich also in seinen Augen ein Alevit und meine nichtalevitische Frau eine Yabanci.

Jahrhundertelange Stigmatisierung und Ausgrenzung durch die sunnitische Mehrheit haben dazu geführt, dass die Aleviten in der Türkei in ihrer Mehrheit laizistische, linke und demokratische Bewegungen unterstützen. Durch das Bekenntnis, aus Hacibektaș zu stammen, ist man demzufolge auch ein linker Demokrat und Laizist. Als der türkisch-kurdische Schriftsteller Yașar Kemal 1997 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, konnte er sich vor Interviewanfragen kaum retten. Er aber ließ ARD und ZDF links liegen, als ich ihm auf seine Frage, „Woher kommst du?“, die Hacibektaș-Variante präsentierte.

Aber ich kann nur selten einen Gesprächspartner schon vorher so gut einschätzen wie Yașar Kemal. Deshalb empfiehlt es sich, die Frage nach der Herkunft des Gegenübers als Erster zu stellen. Denn sie kommt mit absoluter Gewissheit, nicht nur bei uns „Alten“ der ersten Generation. Bin ich an einem unverkrampften Gespräch interessiert und erfahre so, dass der andere etwa aus Konya stammt – einer Hochburg sunnitischer Islamisten –, dann sage ich einfach: „Ich komme aus Istanbul.“ Denn auch nach 40 Jahren in Deutschland ist Spandau dann noch keine Alternative.

Ali Yildirim (51), lebt seit 30 Jahren in Berlin. Er ist Gerichtsdolmetscher, Journalist und Mitinhaber des deutsch-türkischen Fensehsenders Aypa-TV.

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