Das modernste Dorf Europas

In der kleinen spanischen Gemeinde Jun müssen manche Einwohner das Wasser noch immer aus dem Brunnen holen. Aber das Surfen im Web kostet nichts, und der Gemeinderat tagt online – dafür haben einige sogar noch lesen und schreiben gelernt

von REINER WANDLER

Als José Antonio Rodriguez Salas 1999 sein Projekt vorstellte, glaubten viele an einen Scherz. Der Kalender zeigte den 28. Dezember, den Tag, an dem die Spanier ihren Sinn für Humor ausleben wie andere am 1. April. Eine kostenlose Vernetzung seiner Heimatgemeinde Jun, kostenloses Surfen, Gratis-Handys und Computer weit unter Ladenpreis versprach der damals 32-jährige Sohn des sozialistischen Bürgermeisters der 2.000-Seelen-Gemeinde.

Keine zwei Jahre später hat Salas all das wahr gemacht. „Weltweit erster Ort mit freiem und kostenlosem Internet für alle“, „Modellprojekt für Europa“, „ein potenzielles Silicon Valley“ und „Dorf der Teledemokratie“ sind nur einige der Superlative, mit denen nationale und internationale Presse das Dörfchen unweit von Granada belegten. Im Netz ist es zu finden unter www.ayuntamientojun.org. „Der freie und kostenlos Zugang zum Internet ist ein Grundrecht der Bürger“, erklärt Salas, dessen Visitenkarte und private Homepage (communities.msn.es/PRIMERTENIENTEALCALDEDEJUN) mittlerweile der Titel „Erster Stellvertretender Bürgermeister“ schmückt, seine politische Philosophie.

Auf dem „1. Kongress der Städte mit einem virtuellen Netz für die öffentliche Verwaltung“ vom 7. bis 8. November wird die Gemeinde ihr Projekt vorstellen. Kommunalvertreter und EU-Politiker, unter ihnen die Bürgermeister von Brüssel und Buenos Aires, haben sich angekündigt. Die argentinische Hauptstadt stand Pate, als Jun dem Forum von Helsinki für die Anwendung der Informationsgesellschaft beitrat. Ein Dorf als Zwerg im Club der Metropolen? „Im Grunde haben wir ein Intranet geschaffen“, sagt Salas.

Das Geld dafür kommt von Sponsoren: Banken, Computerfirmen und Telefongesellschaften. Insgesamt kamen 800.000 Dollar zusammen. „Doch auch ohne diese Hilfe wäre all das möglich gewesen“, rechnet Salas vor, „nur hätten wir dann viermal so lange gebraucht.“ Sein Ziel war nicht nur das freie Surfen, sondern „eine Neudefinition der sozialen Beziehungen“. Längst können die Einwohner Juns die Formulare aus dem Rathaus downloaden, mit den Nachbarn chatten, Kontakt mit Arzt oder Apotheke aufnehmen oder per Bildschirm an den Sitzungen des neunköpfigen Gemeinderats teilnehmen. Die Bürger können ihre Vorschläge und Anträge per E-Mail senden.

Auf solche Ideen kam Salas während eines Gaststudiums in den USA. Als Informatiker ist er bis heute stolzer Autodidakt, aber „damals vernetzte Al Gore alle Schulen“, erinnert er sich. Heute sind 80 Prozent der Einwohner von Jun mit Breitbandkabel am Netz, im Durchschnitt haben nur 25 Prozent der spanischen Haushalte Zugang zu Internet. „Bei den Bürgermeistern sind es gar nur 5 Prozent“, weiß Salas. Spanien steht damit an vorletzter Stelle in der EU – vor Portugal und gleich hinter Griechenland.

Vor allem bei den älteren Einwohnern galt es, Hemmschwellen zu überwinden. Doch Kurse im Gemeindesaal halfen dabei. Einige lernten sogar lesen und schreiben, um Surfen zu können. Gern erzählt Salas von der 81-Jährigen, die jetzt ihre eigene Homepage baut.

Auch wirtschaftlich ist das Netz für das Dorf rentabel. Ein großer europäischer Telekomkonzern will demnächst seine Spanienniederlassung in Jun eröffnen. Das Gleiche gilt für mehrere internationale Softwareunternehmen. War die Jugend bis vor kurzem noch aus Jun abgewandert, so verzeichnet die Gemeinde jetzt Zuzug von außen. In einer neuen Siedlung werden für 72.000 Euro so genannte „intelligente Wohnungen“ gebaut. Sie sind voll vernetzt. Ein Zentralcomputer steuert alle Funktionen, selbst die Gegensprechanlage an der Haustür kann aufs Handy umgeleitet werden.

Doch längst nicht alle sind mit dem Bild des hochmodernen Jun einverstanden, das Bürgermeister und Sohn so gerne zur Schau stellen. Der Elternverein hängte zur ersten Internet-Gemeinderatssitzung ein Transparent am Eingang des Rathauses auf: „Viel Internet – und was ist mit der Schule?“, stand da zu lesen. Seit Jahren fordern die Eltern vergebens Gelder für die Renovierung des heruntergekommenen Schulgebäudes. Eine Gruppe von Bürgern möchte die Internetbegeisterten mit ihren eigenen Waffen schlagen: Sie erstellen eine Liste der sozialen Missstände in dem Dorf, in dem einige Einwohner ihr Wasser noch immer am Brunnen holen müssen. Das Ergebnis soll unter dem Titel „Die ganze Wahrheit über Jun“ ins Netz eingespeist werden: Auch das ist digitale Demokratie.

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