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Von der Datenfresssucht

Politik und Verbrechen: Vor hundert Jahren begann die statistische Erfassung von Verbrechern. Damals entstand auch die Lehre vom Zusammenhang von Charakter und Physis: die Anthropometrie

von CHRISTIAN SEMLER

Am 10. September 1898 stieß Luigi Luchani, ein junger italienischer Anarchist, seinen Dolch ins Herz der österreichischen Kaiserin Elisabeth und verwundete die viel geliebte „Sisi“ tödlich. Dieses Attentat führte zu italienfeindlichen Ausschreitungen in einer Reihe von Ländern. War doch die öffentliche Meinung schon in den Jahren zuvor durch eine Serie von anarchistischen Anschlägen aufgewühlt worden, die nicht nur Staatsmännern, Polizeichefs und Militärs, sondern zufällig in Cafés oder Theatern versammelten Menschenmengen gegolten hatten.

Obwohl die Attentäter sich eher an den Rändern der anarchistischen Szene aufhielten, wurden ihre Mordtaten der gesamten anarchistischen bzw. sozialistischen Bewegung angelastet. Um dieser scheinbar allgegenwärtigen „anarchistische Gefahr“ zu begegnen, kamen fast alle europäischen Staaten im November 1898 bei einer geheimen Anti-Terror-Konferenz in Rom zusammen. Diese Konferenz, die zwei Monate lang tagte, kann als Vorform für die spätere internationale Polizeikooperation angesehen werden.

Im Gegensaz zu den heutigen Schwierigkeiten bei der Definition von „Terrorismus“ einigte man sich rasch darauf, eine „anarchistische Tat“ habe zum Ziel, „durch gewaltsame Mittel jede soziale Organisation zu zerstören“. Außer dieser weitherzigen Begriffsbestimmung brachte die Konferenz politisch wenig zustande. Vor allem verlief der Versuch im Sande, die nationalen Gesetzgebungen zu „harmonisieren“, um gegen die „internationalen anarchistischen Terrornetze“ effektiv vorgehen zu können. Auch multinationalen Vereinbarungen stand das sorgsam gehütete Prinzip nationaler Souveränität entgegen, von den politischen Differenzen zwischen liberalen und autokratischen Rechtssystemen im damaligen Europa nicht zu reden. Aber auf der polizeilichen Ebene bedeutete die Konferenz einen Durchbruch. Die Experten tauschten Fahndungs- und Ermittlungsmethoden aus, die „Verwissenschaftlichung“ der Polizeiarbeit trat ihren Siegeszug an.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sieht die Geburt einer Reihe von Wissenschaften, die allesamt naturwissenschaftliche Exaktheit auf das Gebiet der Gesellschaft zu übertragen suchen. Statistik, messende Anthropologie, ein ins Soziale gewendeter Darwinismus werden rasch hintereinander in den Dienst der Verbrechensbekämpfung gestellt. Hinzu treten technische Erfindungen, vor allem die der Fotografie, von der Walter Benjamin gesagt hat, sie hätte „für die Kriminalistik nicht weniger bedeutet als der Buchdruck für das Schrifttum“. Erstmals sei es gelungen, die Spuren eines Menschen dauerhaft und eindeutig festzuhalten.

Teils stützten sich die neuen Disziplinen gegenseitig, teils lagen sie im Streit. Die Bevölkerungsstatistik entwickelte die Vorstellung eines „normalen“ Bereichs, der, wie in der Gauß’schen Birne, in einer Zone abweichenden Verhaltens endet. In der Theorie abweichenden Verhaltens erhielt sich ein gesellschaftlicher Erklärungskern, der in den biologisch orientierten Theorien verloren ging. Deren Hauptvertreter, der italienische Anthropologe Cesare Lombroso, versuchte den Typus des „geborenen Verbrechers“ nachzuweisen, der an bestimmten Körpermerkmalen, Ausdruck seines genetisch bedingten, primitiv-atavistischen verbrecherischen Hanges, erkennbar sei. Nach Lombroso konnte man also dem verbrecherischen Typus angehören, ohne jemals ein Verbrechen begangen zu haben.

Einflussreich war auch der Versuch des englischen Begründers der Eugenik, Francis Galton, durch zusammengesetzte Fotos eine Art Typologie verschiedener Ethnien und Berufsgruppen, darunter auch der des Verbrechers, zu gewinnen. Galton, desen Eugenik sich um die Reinheit der „angelsächsischen Rasse“ drehte, wollte solcherart identifizierte Gruppen durch lange Gefängnisstrafen von der Fortpflanzung ausschließen, damit sie nicht weiter zur Degeneration des englischen Volkskörpers beitragen könnten.

Für den Praktiker Bertillon gehörten Überlegungen dieser Art ins luftige Reich der Philosophie. Bertillon, Fahnder bei der Pariser Polizei, sah zwar den Nutzen der Verbrecherfotografie, aber auch die Schwierigkeit ihrer praktischen Handhabung. Galton generalisierte, Bertillon individualisierte. Neben das Profil und En-Face-Foto eines gefassten Verbrechers stellte er deshalb ein aus zwölf respektive sieben Merkmalen bestehendes Signalement von gemessenen Gesichts- und Körperteilen bzw. deren Abständen. Durch dieses Ensemble sollte die Unverwechselbarkeit der gemessenen Person mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden. Der Clou dieses anthropometrischen Verfahrens bestand in der Möglichkeit eines relativ raschen Zugriffs in das Archiv der „portraits parlés“. Denn Bertillon bediente sich bei seinem Schubladensystem statistischer Durchschnittsgrößen bzw. der Abweichungen vom Durchschnitt. Diesem System verhalf die Konferenz von 1898 zum Durchbruch. Schließlich konnten die Daten der „Bertillonage“ im Gegensatz zur Fotografie schnell an jeden beliebigen Ort telegrafiert werden.

Freilich hatte Bertillons Verfahren den Nachteil, dass es nur auf bereits registrierte Personen angewendet werden konnte. Daher auch die Bemühung der Pariser Polizei, möglichst viele Ausländer, Angehörige des Milieus der „gefährlichen Klassen“, des Subproletariats und politisch Verdächtige, also hauptsächlich „Anarchisten“, in die Kartei aufzunehmen. Weil beim Kommune-Aufstand die Personenstandsregister im Pariser Rathaus verbrannt waren, war es vielen polizeilich Verdächtigen zunächst leicht gefallen, sich eine neue Identität zuzulegen. Die „Bertillonage“ erwies sich als ziemlich erfolgreich, unterlag aber schließlich der Daktyloskopie, dem Fingerabdruck. Ausgerechnet Francis Galton, der Typologe, schlug mit dieser Erfindung Bertillon auf seinem eigenen Terrain. Der polizeiliche Idealzustand, nämlich Fingerprints in die neu entwickelten Identitätspapiere aufzunehmen, gelang jedoch nur zeitweilig und bei bestimmten Personengruppen – in Frankreich etwa bei den Ausländern. Das Bewusstsein, dass die Vergangenheit der Person, die Spur ihrer Identität, zum verfassungsmäßig geschützten Persönlichkeitsrecht gehört, war bis in die Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts noch stark ausgeprägt und hat bis heute in einer Reihe von Ländern dazu geführt, dass die Einwohner – horribile dictu – über keine Ausweispapiere verfügen.

Schnee von vorgestern? Heute hat die Biometrie das Erbe der Anthropometrie angetreten. Der Geist von Lombroso und Galton setzt sich Theorien fort, die unseren Charakter wie unsere Taten genetisch zu erklären suchen. Vorfahren wie Enkeln ist aber ein Laster gemeinsam: der Sicherheitswahn und sein Sprössling, die Datenfresssucht, die erst mit der Erfassung der gesamten Bevölkerung gestillt ist.

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