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Die Realität der Hochglanzbroschüren

Aufzeichnungen aus Pflegehäusern (2): Der Altenbetrieb ist nur effizient, wenn es ihm gelingt, Zeit in unentwegte Repetition gerinnen zu lassen. Am besten wäre es, alles könnte mit allen gleichzeitig verrichtet werden, aber da dies nicht geht, muss in schmalen Zeitfenstern sequenziert werden

■ Alter bedeutet in unserer Gesellschaft nicht ein Jetzt-erst, das Fülle und Ertrag meint, sondern ein Nicht-mehr, ein Manko, ein Makel, ein Schicksal, eine Endstation. Unsere Serie beschäftigt sich damit, wie daraus die massenhafte Produktion von unnötigem Leiden wird

von PETER FUCHS und JÖRG MUSSMANN

Das alles wird in den Hochglanzbroschüren also versprochen: hohe Lebens- und Wohnqualiät, Wahrung der Individualität, Selbstbestimmung, Ermöglichung von Autonomie, Sicherheit, Geborgenheit und (in christlich orientierten Instituten) gar Nächstenliebe, und wenn das nicht, wenigstens eine würdig-zivile Betreuung. All diese Werte werden in Leitbildern und Selbstkonzepten heraufbeschworen, verknüpft mit einer Humanrhetorik, die das Glück und die Zufriedenheit im Lebensendabschnitt beschreibt, auch und gerade für diejenigen, die der Pflege bedürftig und womöglich nicht mehr ganz Herr oder Dame ihrer Sinne, ihres Verstandes sind.

Da ist (um mit einem staunenswerten Exempel zu beginnen) ein alter Herr, so um die siebzig, den ein Schlaganfall niedergestreckt hat. Das Sprachvermögen ist danach extrem reduziert. Verfügbar bleiben ein Vokal, ein oder zwei Konsonanten. Damit kann man nicht mehr viel sagen. Das einzige Mittel zur Mitteilung äußerst beschränkter Informationen ist die Modulation der Stimmlagen, der Lautstärke, des Tonfalls.

Aber immerhin, das reicht aus, Zufriedenheit zu bekunden, Aufmerksamkeit zu aktivieren, zu schreien. Es ist nicht: nichts. Der Schlaganfall hat zusätzlich eine halbseitige Lähmung bewirkt. Der alte Herr muss liegen. Und (so eine durchaus nachlesbare Diagnose): Er leidet an Hypersensibilität. Jede Berührung tut ihm weh. Äußerste Vorsicht ist angebracht. Der Mann stellt sich nicht an, wie unter den Pflegern und Pflegehelferinnen kolportiert wird, und selbst wenn er es täte, wie sollte man das wissen?

Zwei Pflegerinnen haben die Aufgabe, diesen Mann im Bett zwecks Vermeidung von Druckgeschwüren zu drehen. Entweder sie wissen nichts von dieser Hypersensibilität oder sie haben sie vergessen. Oder gar: Sie glauben einfach nicht daran. Jedenfalls fassen sie kräftig zu. Der alte Herr fängt an zu wimmern, dann versucht er etwas zu sagen, dann beginnt er zu schreien. Die Pflegerinnen sind genervt.

Da ist der Kotgeruch im sommerlich überhitzten Zimmer, das Problem des Körpergewichts des Klienten (über 100 Kilo), der Schweiß fließt. Dieses Wimmern und Schreien mit den Phasen eines verzweifelten Brabbelns dazwischen ist offenbar für die Pflegerinnen Ausdruck eines Widerstandes, gegen den man sich durchsetzen muss in einem schmalen Zeitkorridor, denn in den nächsten Zimmern warten weitere Leute auf Behandlung. Also ruck, zuck rumdrehen den Mann und dann noch den verkrusteten Stuhlgang entfernen!

Man kann nicht sagen, dass es bei alldem sonderlich um die individuelle Betreuung gehe, um die Individualität, die im Selbstkonzept des Hauses propagiert wird. Sie wird in diesem schmerzhaften Kontakt inkompatibler Erlebenshorizonte zermahlen. Zum Glück müssen die Pflegerinnen weiter, der Spuk geht vorüber, der alte Mann ist jetzt allein. Er hat Zeit sich umzuschauen, denn die Fernbedienung für den Fernseher liegt in einem für ihn nicht erreichbaren Sessel. Sein darauf hinweisendes Stammeln wurde nicht verstanden. Allerdings gibt es nicht viel im Zimmer, woran der Blick sich festbeißen könnte. Das Zimmer, das laut Pflegekonzept mit dem einen oder anderen persönlichen Möbel- oder Erinnerungsstück ausgestattet werden darf und soll, konnte nicht so ausgestattet werden. Es ist zu klein, hat die Maße einer Abstellkammer, und das Bett ist wegen der Größe des Mannes technisch verlängert. Die Wände sind weiß, also geeignet für Meditationen. Da und dort kann man Nägel sehen, an denen die Bilder hingen, die die Vorbewohnerin hatte, die vor einigen Tagen an Krebs gestorben ist. Der alte Herr kann sich also in Ruhe damit befassen, was übrig bleibt, wenn er nicht mehr ist – einige Nägel in der Wand, kleine Reste von Postkarten, Tesafilmstreifen. Und die Fernbedienung ist nicht erreichbar, die wenigstens individuelle Zapp-Möglichkeiten offeriert hätte.

Nun, niemand ist so richtig schuld an dieser misslichen Lage. Zwar ist Individualität garantiert (das hieße eigentlich: Abweichungschancen), aber das Zeitkorsett ist starr. Festgelegt ist fast alles, die Zeit fürs Essen, die Zeit zur Betätigung der Ausscheidungsfunktionen, die Schlafenszeit, die Waschzeit. Der Altenbetrieb ist nur effizient, wenn es ihm gelingt, Zeit gerinnen zu lassen zur unentwegten Repetition desselben. Am besten wäre, alles könnte mit allen gleichzeitig verrichtet werden, aber da dies nicht geht, muss sequenziert werden in schmalen Zeitfenstern, und das heißt: Druck, das heißt: fertig werden müssen, weil man nicht fertig wird. Es gibt, dazu passend, eine Altenpflegebetriebssprache, in der die dann noch verfügbare Individualität in wundersamer Ambiguität aufscheint: „Herrn Schmidtmeier? Den hab ich schon fertig gemacht!“ Fertig machen, fertig werden. Keine Zeit für Hochglanzindividualität.

Das Kleid, das als nächstes am Bügel hängt, wird übergezogen, weil es das nächste ist. Darüber kommt die unvermeidbare Strickjacke. Es ist ziemlich gleichgültig, ob sich das Pastellviolett der Jacke mit dem blassen Grün der Bluse beißt, der übrigens der zweite Knopf von oben fehlt. Der alte Pastor, dem es aufgrund seiner Demenz (O Zauberwort der Wissenschaft!) an Gesprächsfähigkeit gebricht, wird auch am Sonntag mit seiner ausgewaschenen Trainingshose bekleidet. Das macht es leichter, fünf Stunden später die saugstarken Windelhosen zu wechseln. Der Schmuck der peniblen Offiziersgattin ist irgendwo unter einem deponierten Stapel von Vorlagen in einer Schublade verschwunden. Ihr nicht leicht zu verstehendes Nachfragen und Insistieren auf den Schmuck wird als zusammenhangslose Äußerung einer anstrengenden Altersverwirrten abgetan. Außerdem ist für Schnickschnack keine Zeit.

„Unser kleiner Sonnenschein!“, die gehbehinderte lustige Bauersfrau, die immer so ulkig lakonische und völlig unsinnige Bemerkungen macht, muss dringend aus ihrer Urinlache „gezogen werden“.

Nach dieser Grundversorgung sieht die erbarmungslos geregelte Zeit Nahrungsaufnahme vor. Mit dem so genannten Schlabberlatz, einem frottierten Kleiderschutz, versehen, sitzen die Heimbewohner im hektisch von Küchen- und Pflegepersonal durchkreuzten Speiseraum. Das Lätzchen ermöglicht es, dass die Marmeladensemmel von der schüttelgelähmten Hand nicht in den Schoß, sondern auf die Erde fällt, wo sie in aller Ruhe bis Mittag liegen bleiben kann.

Auch die dünnflüssige Milchsuppe tropft weder auf die Trainingshose noch auf das Hemd des Pastors. Dafür rinnt sie zwischen Kragen und Hals zur Brust, wo sie, verkrustet in Hautfalten, bei der nächsten Waschzeit entdeckt und beseitigt werden kann.

Jetzt muss der Speiseraum zügig geleert werden, damit die Küche das Geschirr reinigen kann. In der Sitzgruppe beim Radio ist es ohnehin heller und angenehmer. Die Senior/inn/en werden in einer Karawane von Rollstühlen und Gehwagen zu einer Ansammlung von Sitzgarnituren gebracht, in der sie bis zur nächsten Mahlzeit mit Musik beschallt werden, die alle alten Menschen gerne hören: Volks- und Heimatmusik.

Da kann man schlecht Rücksicht nehmen darauf, dass der studierte Theologe, der noch an einer viel zu harten Brotkruste herumlutscht, eher an einer Bach’schen Kantate sein Vergnügen fände oder die relativ junge Dame im apallischen Durchgangssyndrom vielleicht die Beatles schätzen würde. Gehört wird, wovon gemeint wird, dass es alten Leuten Freude macht. Schwerhörigkeit kann mitunter eine Gnade sein.

Zwischendurch kommt aber die hauseigene Beschäftigungstherapeutin vorbei, die es als ihre Aufgabe ansieht, die Buttermilch trinkende Klientel mit anderen Volksliedern vertraut zu machen oder mit Frage- und Antwortspielchen zu malträtieren, um Gedächtnisleistungen zu fördern. Das Eintreten in einen Dialog wäre in einer halben Stunde zu aufwändig. Schließlich wartet noch die Bastelgruppe. Und das Mittagessen steht auch bevor. Und der Nachmittag. Und das Abendessen. Tag für Tag.

Hochglanzindividualität als Uniformierung der Lebensvollzüge, bis kaum noch jemand von den alten Leuten weiß, worin er sich einstens unterschied von anderen Menschen, wo sein Proprium jenseits der Betreuung und Erledigung von Vitalfunktionen lag. Da ist es ein Glück, wenn nach dem Freiwerden eines Heimplatzes neue alte Leute kommen, die noch ein wenig störende Andersheit mitbringen – für eine kleine Weile.

„Der Mensch wird erst am Du zum Ich!“, sagte einst Buber. Ihm wäre, vermuten wir, sein Pathos vergangen, hätte er Einblick nehmen können in das, wovon wir erzählen.

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