Ein Datum wie ein Geschichtsbuch
In ganz Deutschland lesen am 9. November Schriftsteller, Journalisten und Prominente in Schulen Texte gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. In Berlin beteiligen sich rund 50 Schulen an der Aktion „Wider das Vergessen“
„-ky“ macht sich keine Illusionen: „Es ist ein hartes Brot, in Berliner Grundschulen zu lesen“, sagt der Krimiautor Horst Bosetzky: Die Kinder der Hauptstadt seien eben nicht so „pflegeleicht“ wie die Schülerinnen und Schüler etwa in Bayern. „Aber die Kids müssen wir erreichen.“
Was sich so dramatisch anhört, ist eigentlich eine schlichte Sache: Morgen werden bundesweit ungefähr 160 Schriftsteller, Journalisten und Prominente Lesungen in Schulen geben – in Berlin werden sich rund 50 Schulen beteiligen. Es soll dieser Termin sein, denn dieser Tag ist in Deutschland geschichtlich aufgeladen wie kein anderer des Jahres. Morgen vor genau 83 Jahren dankte Kaiser Wilhelm II ab, vor 78 Jahren putschten die Nazis erfolglos gegen die Weimarer Republik. Vor allem aber war an diesem Tag vor genau 63 Jahren die Pogromnacht, in der NS-Randaletruppen so gut wie alle Synagogen des Reiches niederbrannten und fast 100 Juden umbrachten. Am 9. November 1989 fiel die Mauer, die Deutschland in zwei Staaten teilte und deren Fall der Todesstoß für das undemokratische DDR-Regime war.
„Wider das Vergessen“ heißt die Lese-Aktion, mit der die Autoren nun mit Schülern anlässlich dieses Datums „über Ausgrenzung und Fremdenhass“ diskutieren wollen, wie Fred Breinersdörfer erklärt. Der Krimiautor ist Bundesvorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS). Der Verband, Teil der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, hat den Tag organisiert. Angestoßen durch die berühmt-berüchtigte Rede ihres Kollegen Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche habe man vor zwei Jahren mit einer ähnlichen Aktion große Resonanz gefunden.
Während damals vor allem aus dem „Tagebuch der Anne Frank“ vorgelesen wurde, soll morgen das Buch „Papa, was ist ein Fremder?“ die Hauptlektüre sein. Geschrieben hat es der französische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun. In ihm erklärt der Autor marokkanischer Herkunft seiner zehnjährigen Tochter Mérièm in einfacher Sprache, wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit entstehen. Sein Plädoyer für Toleranz und die Achtung des Fremden wurde unter anderem mit dem „Global Tolerance Award“ der UNO ausgezeichnet.
Die Schirmherrschaft über die Lese-Aktion hat der Präsident des Bundestages, Wolfgang Thierse, übernommen. Auch er wolle in einer Schule lesen, könne es aber nicht sicher zusagen, räumte er bei der Vorstellung der Aktion ein. So ist das in Zeiten des Krieges. PHILIPP GESSLER