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ulrike herrmann über ObjekteIdentität in der Fremde

Wenn die ganze Welt auf einen einzigen Gegenstand schrumpft, werden Reisetagebücher banal – scheinbar

Meine drei weißen Unterhosen gingen kürzlich paddeln. Ich paddelte zwar auch, aber das war nicht wichtig. Wichtig waren die drei Slips. Sie ließen sich nicht ignorieren.

1. Tag: Die erste weiße Unterhose wird beim Paddeln nass, weil Wasser in den Kanadier schwappt. Wer hätte das gedacht. Ich jedenfalls nicht.

2. Tag: Die zweite weiße Unterhose wird nass. Ein Grund, sie zu wechseln.

3. Tag: Die dritte weiße Unterhose wird nass. Die beiden anderen sind immer noch feucht.

Nun gibt es also ein Problem. Abends hatte ich sie perlweiß gewaschen, aber nachts nicht ins Zelt gerettet. Nun hängen sie taufrisch im Baum. Außerdem ist irgendeine braune Brühe aus den Zweigen getropft; die Slips sind gescheckt wie holsteinische Milchkühe. Der Gruppenkommentar: „Du hättest doch wissen müssen, dass man beim Campen nichts Weißes mitnimmt!“ Stimmt. Künftig dürfen nur meine schwarzen Unterhosen reisen.

Obwohl wir in Südfrankreich Ferien machen, regnet es ununterbrochen. Eine ganze Woche lang halte ich nun den Aggregatzustand meiner Unterhosen im Reisetagebuch fest: „Immer noch recht flüssig.“ Diese spontanen Eintragungen sind mir, kaum zu Hause, schon peinlich: Warum musste ich ausgerechnet über meine Wäsche schreiben, warum konnte ich mich nicht harmlos auf die malerischen Kalkfelsen am Flussufer beschränken?

Goethe konnte es auch nicht. Obwohl er dreißig Jahre Zeit hatte, um seine „Italienische Reise“ zu überarbeiten, bevor sie 1816 komplett erschien, sind die Spuren des Banalen nicht ganz getilgt. Der 8. Dezember 1786 beginnt: „Wir haben mitunter die schönsten Tage.“ Diese Aussage dürfte überall und immer wahr sein, nicht nur in Rom.

Aber was nichtssagend scheint, sagt doch viel in einem Reisetagebuch. Was ist Identität in der Fremde? Was stabilisiert dort das Selbst? Objekte. Gefühltes Wetter. Nasse Unterhosen.

Oder ein schwerer Koffer. Er ist die Hauptperson in dem einzigen Tagebuch, das von meinem Vater erhalten ist. Mein Vater hingegen kommt kaum vor, so wenig wie der Schrecken.

Ende April 1945: Hans-Joachim Herrmann ist 15 und mit seiner Klasse nach Schierke im Ostharz evakuiert. Vom Westen rücken die Amerikaner heran, vom Osten die Russen – da wird beschlossen, die Schüler nach Hause, nach Magdeburg, zu verfrachten. Die Niederlage bekümmert die Kinder nicht: „Als uns mitgeteilt wurde, dass das Lager wegen der bedrohlichen Kriegslage aufgelöst würde, erscholl ein lautes Hurra.“

Schierke ist von Magdeburg etwa 70 Kilometer entfernt, aber die Reise dauert vier Tage. Mal hält der Zug im Wald, mal fährt er zurück, mal müssen sich alle im Waggon auf den Boden werfen, mal ist ein Bahndamm inmitten von platten Äckern der letzte Schutz. Denn wie mein Vater lakonisch einträgt: „Es war Tieffliegergefahr; die feindlichen Maschinen sausten über uns hinweg.“

Aber das sind seltene Bemerkungen; mein Vater schreibt nur gelegentlich, als wäre er Kriegsberichterstatter – meistens könnte man ihn für einen Paketboten halten. „Der Bindfaden war alle. Woher welchen bekommen?“ Stolz hebt er das eigene Organisationstalent hervor: „Viele hatten mehrere Gepäckstücke und mussten öfter laufen. Ich brauchte nur einmal gehen.“ Oder später, nach einem Fliegeralarm: „Bei vielen Kameraden war die Verschnürung gerissen, und die Kleidungsstücke lagen herum. Auch bei mir hatte sich der Bindfaden gelockert. Aber es ging noch einmal gut.“

Irgendwie geht es immer gut; inmitten einer Kinderwelt, die sich auflöst, wird der Koffer weitergeschleppt. Sogar durch Halberstadt. Das Fachwerk schwelt noch, als die Schüler durch die Trümmer klettern. Am Tag zuvor wurde diese mittelalterliche Stadt, eine der schönsten Deutschlands, zu 82 Prozent zerstört. Wahrscheinlich hat mein Vater verkohlte Leichen gesehen und gerochen. Doch das durfte nicht wahr sein. Schreiben ließ sich nur: „Es war sehr mühevoll, sich mit dem Koffer den Weg durch die verschütteten Straßen zu bahnen.“

Jetzt fliehen Afghanen vor Bomben. Wehren auch sie den Schrecken ab, indem sie sich auf das Bündel fixieren, das sie auf dem Rücken tragen und das ihre letzte Habe ist? Zieht sich auch ihre Welt auf ein Objekt zusammen, um das Grauen zu verdrängen? Ich kann es mir nicht anders vorstellen.

Fragen zu Objekten? kolumne@taz.de

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