: Strategie der Nadelstiche
Für drei Stunden rührte sich der Zug nicht vom Fleck – weil er trotz der Kälte keinen Winterdiesel getankt hatte. Längere Verzögerungen gab es nicht
von STEFAN KUZMANY, NICK REIMER und JÜRGEN VOGES
Voran ein gelbes Kontrollfahrzeug, dahinter zunächst zwei rote Dieselloks – so war der Atommüllzug gestern ab Lüneburg unterwegs. Den Loks folgte ein dunkelblauer Gepäck- und Ausrüstungswagen, dahinter drei hellblaue Waggons voller BGS-Beamter, dann die sechs flachen grünen Wagen mit den hellgrauen Castor-Behältern darauf. Dem folgten wieder vier D-Zug-Wagen mit Bundesgrenzschützern, ein weiterer Materialwagen und schließlich, am Ende, eine dritte Diesellok. Wie lässt sich ein solcher Zug aufhalten?
Bei Harlingen waren es sechs Demonstranten, die mit Wagenhebern die Gleise anzuhebeln versuchten. Greenpeace setzte eigens eine Draisine auf die Gleise, Robin-Wood-Aktivisten wollten sich an die Gleise ketten – doch alle Aktionen, die den Transport stoppen sollten, flogen gestern auf. „Entweder die Polizei war diesmal zur rechten Zeit am rechten Ort, oder wir wurden observiert“, sagte Robin-Wood-Sprecher Jürgen Salterie der taz. Immerhin wurde der Umweltverband „messtechnisch“ aktiv: Entlang der Transportstrecke wurden Daten zur Strahlenbelastung erhoben. In der Nacht zu Dienstag hatten noch knapp 2.000 – die Polizei sprach von 1.400 – Demonstranten die Gleise bei Hitzacker besetzt. Einige begannen die Schienen zu demolieren. Bei der Räumung der Blockade nahm die Polizei 51 Demonstranten fest.
In Hitzacker, gegenüber dem Autohaus Dehle, will ein Polizeikonvoi Richtung Dannenberg durchfahren. Eine Gruppe von etwa 50 Demonstranten und Anwohnern will das nicht zulassen. „Blockieren!“, rufen einige, versuchen sich zwischen die Fahrzeuge zu drängen: Kleinbus an Kleinbus, Wasserwerfer, Räumfahrzeuge. Ein Demonstrant, barfuß, schafft es. „Verschwindet endlich!“, schreit er den Polizisten an, der ihn wegschubst. „Ich hab auch keine Lust mehr!“, schreit der Polizist zurück. In wenigen Minuten hat die Polizei eine Kette gebildet und die Demonstranten vertrieben: Die Mitarbeiter des Autohauses polieren ihre Ausstellungsprojekte, als sei nichts geschehen.
Viertel nach eins, an der B 216 kurz vor Oldendorf. Stau vor einer Polizeisperre. Rechts von der Straße verläuft das Bahngleis zum Verladebahnhof. Der Castor-Zug rollt vorbei, umschwärmt von Hubschraubern. Auf den Feldern wachen Bereitschaftspolizisten mit Helm und Schlagstock am Gürtel. Hier geht jetzt nichts mehr. Die Autofahrer steigen aus, rauchen, fluchen. Der Fahrer eines blau-weißen Tanklastzuges greift zum Handy: „Teilen Sie dem Hauptkommissar mit, dass ich nicht weiterkomme. Die Kollegen müssen in den Wald gehen.“ Seit zwei Wochen fährt er den Verladebahnhof in Dannenberg an, alle zwölf Stunden – die dort für die Poliziszen aufgestellten Dixie-Toiletten werden jetzt wohl überlaufen.
Am Ende hat die Reise der sechs Castor-Behälter quer durch die Republik doch wieder eine ganze Nacht und einen halben Tag gedauert. Erst gestern Nachmittag um drei Uhr zeigten die über Dannenberg kreisenden BGS-Hubschrauber an, dass sich der Atommüllzug seinem Ziel, der Umladestation hinter dem Dannenberger Ostbahnhof, näherte. Reporter hatten den Zug schon früher erwartet, doch er war durch ein simples technisches Problem aufgehalten worden: Zumindest eine der Loks war nicht angesprungen, hatte offenbar trotz der Kälte keinen Winterdiesel getankt. Dies allein sorgte für eine dreistündige Castor-Verspätung.
Sieben Kilometer vor Lüneburg hatten zwei junge Männer im Alter von 25 und 29 Jahren ein Metallrohr unter einem Schienenstrang hindurch geschoben und sich in dem Rohr an je einem Arm zusammengekettet. Eine Dreiviertelstunde brauchte die Polizei, um die beiden voneinander zu lösen. Sie wurden anschließend mit Plastikschnüren gefesselt und vorläufig festgenommen. Hinter Lüneburg sorgte dann eine Aktion von Robin Wood für eine weitere Verzögerung: Nahe Bavendorf spannten zwei Aktivisten in sieben Meter Höhe über der Bahnlinie zwischen zwei Bäumen zwei Seile, eines zum Draufstehen und eines zum Festhalten. Allerdings konnte dieses Hindernis in luftiger Höhe den Zug nur zwanzig Minuten aufhalten.
Als der Zug dann gegen 15 Uhr auf dem Verladebahnhof Dannenberg eintrifft, stehen lediglich einige 100 Atomkraftgegner zum Protest bereit. Geschickt hatte die Polizei das ganze Wendland so abgesperrt, dass, wer einmal vom Castor überholt wurde, nicht mehr rechtzeitig zum Verladebahnhof kam. Im Bahnhof wurde dann mit Rangier-, Umlade- und messtechnischen Arbeiten begonnen. Im März hatte das Transportkommando dafür sechs Stunden gebraucht. Ob die sechs Castoren noch in der Nacht auf das letzte 20 Kilometer lange Straßenstück geschickt werden sollten, war zunächst unklar.
Klar war dagegen, dass die Demonstranten für dieses Teilstück noch einmal mobilisieren. „Das ist einer unserer Protestschwerpunkte“, erklärte Peter von Rüden, Sprecher des Aktionsbündnisses WiderSetzen.
Geübt jedenfalls hat der Widerstand dafür schon einmal. Am Vormittag durchbrachen etwa 600 Demonstranten bei Splietau die Polizeisperren und blockierten die Straße nach Gorleben. Geübt hat auch die Polizei, die mit Schlagstöcken und Hunden vorging. Mindestens 13 Verletzte durch Hundebisse und Schlagstöcke beklagten die Atomkraftgegner. So spricht denn alles dafür, dass die letzten 20 Kilometer schwere Kilometer werden – für beide Seiten.
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