Politik spielt Nachhut des Militärs

Während Diplomaten am UN-Sitz in New York über Afghanistans Zukunft nachdenken, schafft die Nordallianz Fakten auf dem Schlachtfeld

„Versuchen, politische Aspekte auf Liniemit den militärischenzu bringen“

von DOMINIC JOHNSON

Bei der Gestaltung der Zukunft Afghanistans bewegen sich Diplomatie und Militär zwar gleichzeitig, aber nicht im Gleichschritt. Während das Taliban-Regime in Kabul zusammenbrach, feilten im UN-Hauptquartier in New York Diplomaten aus acht Ländern an Modellen für „eine politische Lösung der afghanischen Krise“. Als die Überlegungen fertig zur Veröffentlichung waren, befanden sich die Taliban bereits auf der Flucht.

Seitdem läuft die internationale Diplomatie den Panzerfahrzeugen der Nordallianz hinterher. „Weil sich die Dinge sehr schnell bewegen, müssen wir versuchen, die politischen Aspekte auf Linie mit den militärischen Entwicklungen zu bringen“, sagte UN-Generalsekretär Kofi Annan bei der Pressekonferenz nach dem New Yorker Treffen am Montagabend.

Die Beratungen der UNO am Montag fanden im Rahmen der „Sechs-plus-zwei“-Gruppe statt – Afghanistans Nachbarstaaten China, Iran, Pakistan,Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sowie USA und Russland. Die favorisieren „die Einsetzung einer breiten, multiethnischen, politisch ausgeglichenen, frei gewählten afghanischen Administration, die die politischen Hoffnungen der Afghanen vertritt und mit ihren Nachbarn in Frieden lebt“.

Ein Dilemma ist nun, dass der Sturz der Taliban durch die Nordallianz dieses Ziel nicht automatisch der Realisierung näher bringt. Die zurückhaltende Wortwahl des UN-Afghanistan-Beauftragten Lakhdar Brahimi nach Abschluss des New Yorker Treffens sprach Bände: „Ich hoffe, dass wir so bald wie möglich versuchen werden, eine hoffentlich repräsentative Auswahl der afghanischen Bevölkerung zusammenzubringen und zu sehen, was für eine Art von Interimslösung für Kabul wir zusammen ausarbeiten können“, sagte er.

Das war eine umständliche Art zuzugeben, dass bisher noch kein internationales Arrangement für eine Post-Taliban-Regierung in Afghanistan existiert. „In den nächsten Tagen“, so Annan, solle Brahimi ein solches Treffen „in Wien, Genf oder einer näher zu Afghanistan liegenden Stadt“ einberufen. Mit wem, wurde nicht präzisiert.

Umstritten ist, ob in einer Übergangsregierung der seit 1973 im italienischen Exil lebende afghanische Exkönig Sahir Schah eine Rolle spielen soll. Dies wollen die USA – Sahir Schah ist die erste Anlaufstelle des Afghanistan-Beauftragten der US-Regierung, James Dobbins, der am Montag zu politischen Geprächen über Afghanistan nach Europa aufbrach. Vom US-Außenministerium hat der Exkönig umgerechnet fast 900.000 Mark für „Reise- und Verwaltungskosten“ bekommen. Aber Iran lehnt den König ab, und China ist gegen jede proamerikanische Regierung in Kabul.

So besteht in der „Sechs-plus-zwei“-Gruppe und damit in der UNO keine Einigkeit. Und dass Sahir Schah gestern der Nordallianz vorwarf, mit ihrem Einmarsch in Kabul ein Versprechen an ihn gebrochen zu haben, spricht nicht für Gemeinsamkeiten zwischen dem Exkönig und den neuen Herren in Kabul. Vor diesem Hintergrund scheint der Wunsch nach einer „internationalen Militärpräsenz zur Stabilisierung der Lage in Kabul“, also einer muslimischen Eingreiftruppe, den US-Außenminister Colin Powell in New York vortrug, schwer realisierbar.

Aber nicht nur die USA müssen neue Konzepte erarbeiten. Frankreich und Großbritannien hatten letzte Woche einen Entwurf für eine UN-Sicherheitsratsresolution zu Afghanistan erarbeitet. Von einer UN-Truppe war darin nach Informationen französischer Medien keine Rede. Jetzt betonen die beiden Länder, die UNO müsse eine Führungsrolle einnehmen. Der britische PremierTony Blair sagte gestern in London, er befürworte eine UN-Präsenz in Afghanistan „so bald wie möglich“. Frankreichs Präsident Jacques Chirac sagte in Abu Dhabi, er wolle in Afghanistan ein „Minimum an Verwaltung“ als „provisorische politische Lösung“, um die humanitären Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. „Die Vereinten Nationen sollten diese Aufgabe übernehmen, weil sie die einzige Partei sind, die dazu fähig sind und den Flüchtlingen schnell helfen können“, so Chirac.

Die USA führten den Krieg – die UNO führt den Frieden? Dafür scheint die Zeit noch nicht reif. Die Fakten werden auf dem Schlachtfeld geschaffen, und mit jedem Erfolg der Nordallianz nimmt der ausländische Einfluss offenbar ab. Erst die Aufrüstung durch die US-Koalition verwandelte die Nordallianz überhaupt in eine kampfstarke Truppe – aber heute muss das Ausland die afghanischen Sieger bitten, man möge doch die Menschenrechte respektieren. „Diejenigen, die jetzt in Afghanistan die Macht ausüben werden, stehen ab jetzt unter dem wachsamen Auge der internationalen Gemeinschaft“, sagte am Montag Frankreichs Außenminister Hubert Védrine. Eigentlich war die ausländische Rolle in Afghanistan zuletzt nicht aufs Zuschauen beschränkt.