: Zeugnis und Scham
Eine verschwiegene Geschichte: Der Dokumentarfilm „Paragraph 175“ zeichnet das Schicksal von Schwulen und Lesben im Dritten Reich nach
Von CRISTINA NORD
„Als wir nach Berlin kamen, war die ganze Stadt voller Kräne“, sagt der US-amerikanische Filmemacher Rob Epstein, der mit Jeffrey Friedman die Dokumentation „Paragraph 175“ gedreht hat. „Wenn man sich eine Zukunft schafft, ist es wichtig, die Vergangenheit zu erinnern. Und wie machen wir das? Dadurch, dass Zeugnis abgelegt wird.“
Pierre Seel aber tut sich schwer damit, Zeugnis abzulegen. „Glauben Sie, dass ich darüber reden kann?“ fährt er sein Gegenüber, den Historiker Klaus Müller, an. „Es ist schwierig, über diese Zeit zu reden.“ Dann erzählt er doch, in Fragmenten, widerwillig: Wie sein Körper noch immer an den Folgen der Misshandlungen leidet, wie die Nazis seinen Gefährten umgebracht haben. Der 1922 geborene Mann aus dem Elsass wurde in das Lager Schirmeck verschleppt, weil ihn die Nazis als homosexuell einstuften. „Wer Homosexualität ausübt, verweigert Deutschland die Kinder, die er ihm schuldet“, soll Himmler gesagt haben.
Pierre Seel ist einer der Zeitzeugen, die Epstein und Friedman für „Paragraph 175“ befragt haben. Dieser Paragraph trat 1871 in Kraft, und ahndete sexuelle Kontakte unter Männern mit Gefängnisstrafen und dem Verlust der bürgerlichen Rechte. In der Weimarer Republik kam er zwar selten zur Anwendung, und fast gelang es einer Allianz rund um den Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, die Abschaffung zu erwirken. Doch die Nazis verschärften den Paragraphen, kaum dass sie an der Macht waren. Lesbische Frauen galten ihnen als korrigierbar und blieben daher, bis auf einige Ausnahmen, von der Verfolgung verschont, schwule Männer nicht. In der DDR wurde der Paragraph 1968 entschärft, in Westdeutschland ein Jahr später. Vollständig gestrichen wurde er erst in den 90er-Jahren.
Die Aussagen der alten Männer werden mit historischem Film- und Fotomaterial unterlegt und kontrastiert. Damit durch die Interviews keine alten Wunden aufbrachen, war Behutsamkeit nötig. „Keiner der Überlebenden“, sagt Rob Epstein, „musste seine Geschichte mehr als einmal erzählen. Jeffrey und ich haben zwar viel Erfahrung mit Interviews, aber dies war doch eine ziemlich außergewöhnliche Situation. Mit jedem Gesprächspartner war es anders.“ Nicht alle tun sich so schwer mit dem Erzählen: Der 1923 geborene Gad Beck erinnert sich lebhaft daran, wie er als Teenager seinen Sportlehrer verführte. Später zeigt er ein Foto, auf dem etwa 30 Personen, der jüdische Zweig seiner Familie, zu sehen sind. Es dauert eine Weile, bis er diejenigen gefunden hat, die nicht in einem Konzentrationslager umgekommen sind. Auf zwei Gesichter deutet sein Zeigefinger.
Ein anderer der Männer, der 1912 geborene Heinz Dörmer, schwärmt von seiner Zeit als Pfadfinder, was Epstein und Friedman mit Bildern junger, schöner Körper in der freien Natur unterlegen. Es sind idyllische Aufnahmen, die wenig später den körnigen, verlangsamt ablaufenden Bildern fanatisierter Nazimassen gegenübergestellt werden. Annette Eick, die einzige Frau unter den Zeitzeugen, erzählt vom Berlin der 20er-Jahre, von der bewegten Lesbenszene und den Frauen, die sie beeindruckt haben. Dazu sieht man Aufnahmen von Marlene Dietrich, das Lichterflirren der Großstadtnacht und zwei Pinup-Girls in zärtlicher Umarmung. Die Flucht aus Deutschland, erzählt Eick, sei ihr nur knapp geglückt.
Besonders im ersten Drittel des Films folgen die Bilder so rasch aufeinander, springt die Dokumentation so schnell von einem Interviewpartner zum nächsten, dass Konzentration und Bündelung kaum möglich sind. Wenn Epstein und Friedman Material verwenden, das die Nazis einsetzten, vermögen sie nicht wirklich, den Propagandaeffekt zu brechen. Auch wenn sie sich alle Mühe geben: „Es gab Einstellungen“, sagt Jeffrey Friedman, „die wir anfangs im Film hatten und dann wieder herausnahmen, weil wir meinten, dass sie nicht die Zeit wiederspiegelten, sondern das Bild, mit dem die Nazis sich selbst darstellen wollten. Es gibt zum Beispiel Footage von Leni Riefenstahl. Das ist sehr heikel. Darin gibt es Momente, die gar nicht inszeniert wirken, und dann wieder Momente, die ganz offenkundig so choreographiert waren, dass sie eine mächtige NSDAP mit vielen, vielen Unterstützern zeigen. Wir gaben unser Bestes, um Distanz herzustellen“.
„Paragraph 175“ hat viele starke Momente. Gegen Ende sagt einer der Männer, aus Scham habe er Zeit seines Lebens kein Wort über die im KZ verbrachten Jahre verloren. Ein anderer wurde auch in den 50er- und 60er-Jahren inhaftiert, auf der Grundlage des Paragraphen 175. Und Pierre Seel hat bislang umsonst um eine Entschädigung gekämpft.
„Paragraph 175“, Regie: Rob Epstein, Jeffrey Friedman, USA 1999, 81 Min, in den Kinos FT am Friedrichshain, International, Xenon
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