robin alexander über Schicksale: Gegen Bin Laden hilft nur Winnetou
Wer heute jung ist, hat zu oft gehört, die Welt würde untergehen. Das soll kommenden Generationen erspart bleiben
Mein Gegenüber hebt sein bauchiges Rotweinglas und seufzt: „Das wir das noch erleben dürfen!“ Prost. Wir stoßen an, und mir stößt etwas auf. Was reden wir hier eigentlich? Absurd die ganze Szene: Der Freund, der hier im spanischen Restaurant mit mir trinkt, hat noch lange kein Alter erreicht, bei dem man sich über die eigene Existenz wundern sollte. Auch hat er keine schlimme Krankheit glücklich überstanden und ist er keiner Gefahr knapp entronnen. Zumindest soviel ich weiß.
Nein, nach gängigen Kriterien geht es ihm gut: jung, aber nicht mehr zwanzig; Job, aber kein Karrierestress; Freundin, aber nicht verheiratet; Großstadt, aber keine teure Wohnung. Berlin halt. Er mag sein Leben, obwohl er sich manchmal ein wenig zu satt fühlt. Sein Sein ist es nicht, was ihn sentimental stimmt, sondern sein Bewusstsein. Noch genauer: sein Unterbewusstsein.
Das wird bekanntlich in den ersten Lebensjahren entscheidend geprägt. Deshalb macht mein Gegenüber zu Recht seine Eltern verantwortlich für einen komischen Gedanken, der ihn regelmäßig wie ein Albtraum überkommt: Unser junger Mann ist irritiert, dass es ihm gut geht. Er ist irritiert, dass es überhaupt jemandem gut geht. „Als Kind hätte ich nie gedacht, dass es die Welt noch gibt, bis ich erwachsen werde.“ Mein Wein trinkender Freund ist aufgewachsen in einer Zeit, die keine Zukunft kannte. Jedenfalls keine, in der junge Männer zufrieden Wein trinken.
Die Eltern meines Freundes waren weder Mormonen noch Zeugen Jehovas, noch Anhänger irgendeines anderen Kultes, der in regelmäßigen Abständen das Ende der Welt vorhersagt. Aber ein bisschen haben wir zwischen 1970 und 1980 Geborenen alle etwas von Sektenkindern. Dabei wurden uns Nikolaus, Frau Holle und das Christkind ausgetrieben, bevor wir richtig Weihnachten sagen konnten.
Glaube und Aberglaube wären nichts für uns, meinten unsere aufgeklärten Eltern. Sie wussten, was los ist, und haben es auch ihren Kindern nicht vorenthalten: Diese Welt ist dem Untergang geweiht. Der Mensch in seinem Fortschrittswahn hat Kräfte entfesselt, die ihn vernichten werden. Und zwar bald. Diese Elterngeneration, die Grimms Märchen und Karl May für zu gewaltintensiv für Kinderseelen hielt, schenkte sogenannte „Jugendbücher“. Werke, in denen Autorinnen mit und ohne Doppelnamen beschrieben, wie Deutschland aussehen werde nach dem unabwendbaren Atomkrieg – also in spätestens drei oder vier Jahren.
Die Helden unserer Bettlektüre reisten nicht durch Texas oder den Kongo, sie irrten, Haare und Hautfetzen verlierend, durch Hessen nach dem Atomschlag. Süße Träume machten uns „Die letzten Kinder von Schewenborn“ nicht gerade. Aber solche Erzählungen waren ja auch als „Wachrüttelgeschichten“ gedacht. Autorinnen, Verlage und Eltern meinten damals, die Erinnerung an Kinderängste und schlaflos durchwachte Nächte motiviere junge Leute am besten zu politischem Engagement.
Jahrelang – mein Freund führt sein Glas mit zitternder Hand zum Mund –, jahrelang konnte er keine dunkle Wolke am Himmel anschauen, ohne zu fürchten, sie könnte den Atomtod herabregnen: „Einmal habe ich mir sogar einen Geigerzähler zum Geburtstag gewünscht.“ Kleiner als heute schien unsere Welt, als wir klein waren, nur die Schrecken, die waren groß, größer, am größten, ja sogar am „supergrößten“. Supergrößter anzunehmender Unfall. Selbst Superlative wurden noch gesteigert, um Gefahren zu beschreiben, die stets apokalyptische Ausmaße hatten. Sogar die Sprache nahm Schaden bei dieser Hysterie!
Mein Freund hat sich in Rage geredet. Ich beruhige ihn, dies alles sei ja längst vorbei. Als dominante Version habe die Hölle längst ausgedient. – „Nein, es geht wieder los!“ Fast schreit mein Gegenüber. Die „Spaßgesellschaft“ sei schon abgeschafft erklärt. Gestern erst habe er seine besorgte Schwester laut überlegen hören, „den Terrorismus und das Ganze“ ihrer Tochter „irgendwie in kindgerechter Weise nahe zu bringen“.
Die einschlägigen Verlage haben die Produktion wahrscheinlich schon aufgenommen. Aber noch ist die Kleine zu retten. Sie soll unsere Tragödie nicht wiederholen müssen, schwören wir. Den Schlaf derer, die heute noch jung oder ungeboren sind, wollen wir verteidigen gegen Beltz und Gelberg, Middlehauve und Rowohlt. Ihre Träume soll niemand stören – Ussama Bin Laden schon gar nicht.
Winnetou werden wir der Kleinen schenken, gleich morgen, Band I bis III.
Fragen zu Schicksal? kolumne@taz.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen