„Für die Grünen ist es wirklich fünf nach zwölf“

Die Partei braucht Profil. Dies kann sie durch Globalisierungskritik und eine militärkritische Realpolitik gewinnen, meint Politologe Claus Leggewie

taz: Rot-Grün ist gerettet, aber um einen hohen Preis: Die Grünen haben sich erpressen lassen. War der Preis zu hoch?

Claus Leggewie: Das kann man professionell wegstecken. Schröders Schachzug halte ich nach wie vor für inhaltlich falsch und koalitionspolitisch, gelinde gesagt, wenig hilfreich. Aber man muss anerkennen, dass er erst einmal zum Ziel geführt hat. Die Grünen als 6-Prozent-Partei haben dem wenig entgegenzusetzen. Sie sind jetzt die lahme Ente in einer angeschlagenen Koalition – aber in der Opposition würden sie wohl völlig zerrieben.

Der pazifistische Flügel der Grünen ist seit gestern endgültig im Abseits. Hat er keine Heimat mehr bei den Grünen?

Der Pazifismus ist schon lange nicht mehr zeitgemäß, er hat nichts mit politischen Herausforderungen, sondern mit deutscher Identität zu tun. Seine unbelehrbaren Vertreter mögen sich bei Ökolinx oder PDS weiter Illusionen über ihre Unschuld machen. Militärkritik hingegen – im Sinne einer Gegenposition zu militärischen Abenteuern, hegemonialen Nato-Strukturen und erst recht einem Primat des Militärischen – wird jetzt überhaupt erst aktuell, und dafür müssen die Grünen auch in Ostdeutschland eine Plattform bilden.

Glauben Sie, dass Schröder letzlich auch im Interesse von Fischer gehandelt hat, der seine Realpolitik durchsetzen will?

Ich glaube eher, dass Fischer ein paar Tage in den Seilen hing. Bei der Bundestagsdebatte hat er seine Bissigkeit wiedergewonnen, und man kann einen ebenso überzeugenden Außenminister auf dem Parteitag erwarten. Dazu muss er allerdings, nicht nur rhetorisch, Distanz zu Schröders Schachzug erkennbar machen. Und er muss zeigen, ob die Grünen noch seine Partei sind.

Die Grünen brauchen mehr Profil. Wie soll das, außenpolitisch, aussehen?

Sie sollten einige richtige und populäre Forderungen der Globalisierungskritik aufnehmen, sofern die nicht nur an Pathos-Klamauk und Verratsgeschrei gegenüber den Grünen interessiert ist. Außenpolitik ist bekanntlich stets mit umwelt- und entwicklungspolitischen Fragen gekoppelt, und die Grünen müssen endlich mit dem Pfund einer alternativen Verkehrs- und Verbraucherpolitik wuchern.

Fischer hat der Globalisierungskritik „abgestandenen Antikapitalismus“ unterstellt. Ein Fehler?

Es gibt dort auch überzogene bis idiotische Forderungen. Aber die pauschale Distanzierung war falsch. Am Beispiel der Welthandelsfragen kann man zeigen, dass das vorherrschende Globalisierungsmuster insular und exklusiv ist, dass es ökologisch nicht nachhaltig und wenig demokratieverträglich ist. Man kann aus der Globalisierung nicht aussteigen wie aus einem Fiaker, aber man kann deutliche Alternativen entwickeln, zusammen mit NGOs. Diese haben einen demokratischen Anspruch, aber eine Legitimationsschwäche. Die Grünen können sich als demokratisch legitimierte Globalisierungskritiker profilieren.

Was wird, was sollte der Parteitag in Rostock bringen?

Es wird das übliche Lamento geben, aber letztlich wohl eine Zustimmung, also kann man auch das Wundenlecken und Tränentrocknen sein lassen. Die Grünen müssen endlich diese ewige Hängepartie beenden. Sie dürfen nicht nur ihr zunehmend schlecht gelauntes Milieu bedienen, sie müssen sich als Teil der kritischen Öffentlichkeit und Gesellschaft reaktivieren. Es ist wirklich fünf nach zwölf.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE