: Die Nächte im Ramadan
Hungern wie die Großen, stoisch leiden, um das Zertifikat für Ausdauer und die Anerkennung der Erwachsenen zu erlangen – eine Erinnerung an die kindliche Erfahrung des ersten Fastens
von ASSIA DJEBAR
Imsak . . . sobald ich dieses arabische Wort zwei- oder dreimal wiederhole (ich betone den ersten Konsonanten und dehne den zweiten, bis er nachklingt), erstehen in meiner Erinnerung meine Nächte im Ramadan wieder, jene ersten, die sich mir eingeprägt haben, als ich sechs, höchstens sieben Jahre alt war.
Sofort sind sie mir gegenwärtig in ihrer Magie, ein ganzer Strang unbedeutender familiärer Ereignisse unter Frauen – Müttern, Tanten, Kusinen – und uns Kindern, die wir vom sehnlichsten Wunsch erfüllt waren, einer brennenden, beinahe eifernden Ungeduld, ebenfalls mit dem islamischen Fasten beginnen zu dürfen, zum ersten Mal in unserem Leben . . .!
Einen ganzen Tag fasten, nichts trinken und nichts essen, vom Beginn der Morgendämmerung (die von den ersten meckernden Tönen des Muezzin angekündigt wurde) bis zum Augenblick des Sonnenuntergangs, der den Himmel rot färbte.
Wir waren erfüllt vom Eifer, diese lange Zeit zu fasten. Weshalb denn, werden Sie fragen, wo wir doch kleine Mädchen und Jungen waren. Wir konnten es kaum erwarten, oh ja, in unsrer Ungeduld und unserem Stolz, endlich zu sein wie die Großen, einen ganzen Tag (den ersten in unserem Leben) Durst und Hunger zu leiden, sogar Schwindel zu spüren, bevor einem die Sinne schwinden, vor allem zu Beginn des Nachmittags (wenn der Ramadan, der mit den Jahreszeiten wechselt, da er dem Mondkalender folgt, auf die Hundstage im Sommer fiel). Dann die größte Hitze zu erleiden, mit schmerzendem Kopf, weil nicht einmal ein Tropfen Wasser (der ein Brechen des Fastengelübdes bedeutet hätte) unsere rissigen Lippen befeuchten durfte!
Fasten wie die Großen, stoisch leiden und dabei manche Verwandten übertreffen, das wollten wir, das heißt meine gleichaltrige Kusine und ich, in einem, wie ich mich gut entsinne, außergewöhnlich trockenen, harten und grausamen Sommer . . . Schließlich winkte mit dieser Erfahrung das Zertifikat für Ausdauer, beinahe für Askese – auch wenn uns dieser Begriff natürlich noch fremd war.
Vielleicht waren wir ein wenig bleich geworden, als wir um drei Uhr nachmittags dösten – während draußen sogar das Fohlen in der Scheune, die Hühner, Katzen und unterm Dach die gurrenden Tauben, ja alle Tiere wie die Menschen des Bauernhofs und des Dorfes schlummerten – und wir beide dennoch durchhielten, ein bisschen erschöpft, meine Kusine auf einem Stuhl sitzend, die Augen schwer von Müdigkeit, und ich plötzlich im Innern von quälendem Durst geplagt! . . . Und an diesem ruhmreichen ersten Tag – bedeutender noch als jener Augenblick zwei oder drei Jahre zuvor, in dem wir endlich unser koranisches Gebet in der Mulde des Bettes in nächtlicher Finsternis fehlerlos aufgesagt hatten – zog das schleichende Brennen dieser Ramadan-Zeit durch unseren Leib, für die Dauer von beinahe vierzehn Stunden: Ja, wir hatten gesiegt, hatten bis zum Schluss durchgehalten, nun kam endlich der Augenblick der Abenddämmerung und die erquickende Abendmahlzeit . . .
Unsere kindliche Eitelkeit tauchte diesen Tag der Prüfung in einen außergewöhnlichen Glanz. Manchmal geschah ein Zeichen, das Mystiker aller Religionen kennen: eine plötzliche und unerwartete Umkehrung des Geschmacks und des Geruchssinns, sodass einem augenblicklich an einer gedeckten Tafel weder die Speisen noch die Getränke verführerisch erscheinen! Schnell, nur einen Schluck vom kalten Wasser und die Lippen kaum benetzt mit einer halben honigsüßen Dattel, und schon hätten wir uns neu gestärkt gefühlt.
Wir empfanden plötzlich weder Hunger noch Durst und wir wurden ergriffen von einer tiefen, aber erfüllten Trauer: immerzu fasten bis in Ewigkeit, warum nicht, einschlafen und sterben, nur der Name Gottes würde uns einen Seufzer entlocken.
Ach, dieser erste Tag im Ramadan: Herzstück schattiger, stolzer Kindheit . . . Weshalb aber ist dieses Wort imsak heute der Schlüssel, für mich wie auch für andere, sobald sie in dem Reich frühester muslimischer Träumerei versinken?
Imsak heißt auf Arabisch jener Augenblick, da die Dämmerung anbricht – das erste kaum merkliche Licht des Tages, das die dichte Nacht durchdringt . . . um drei oder vier Uhr morgens in Zeiten des Sommers oder Anfang Herbst, im Winter so gegen fünf Uhr oder später.
Der imsak beschließt also in Zeiten des Ramadan die lange – oder kurze – Nacht, die dem menschlichen Appetit zur Verfügung steht. Wir Kinder kannten die Sehnsüchte anderer Natur noch nicht, die sich den Erwachsenen boten, wir dachten nur an die Leckereien, an die süßen Speisen des Abendessens, an Sorbets und Limonaden . . . Lange Abende, wachend in der Familie mit Gesprächen verbracht, die Jüngsten wurden recht bald ins Bett geschickt, später folgten die Großen. Wir wussten, dass es die Aufgabe der Ältesten unter den kochenden Frauen (der Großtante oder einer verwitweten Verwandten) war, alle Fastenden etwa eine Stunde vor dem imsak zu wecken . . . Sie hatte zuvor die Töpfe aufs Feuer gestellt und servierte ein Gericht aus süßem Grieß und Milch als letztes Mahl, den suhur, den jeder mitunter nur halb wach aß. Dann ging man wieder schlafen bis zu der Zeit, da man gewöhnlich aufstand und den Tag des Fastens und der Arbeit begann. Die Fastenzeit dauerte in diesem Rhythmus einen ganzen Mondmonat von achtundzwanzig oder neunundzwanzig Tagen.
Um den nächtlichen Zwischenakt des suhur – der „helfenden“ Speise – rankten sich jedoch lange Verhandlungen, zwischen meiner Kusine und mir auf der einen Seite und jener alten Tante, die die Fastenden weckte, auf der anderen:– Du musst uns wecken, Tante, sagte ich immer wieder. Ich werde kurz vor dem imsak mit euch essen, denn ich möchte morgen fasten!– Du hast doch letzte Woche schon einen Tag gefastet! Das genügt, beschied die Tante selbstherrlich, für eine Sechsjährige ist das genug!
Meine Kusine mischte sich ein:– Ich möchte auch vor dem imsak geweckt werden und eine Kleinigkeit essen . . .! Wir sind doch groß genug! Wir werden fasten!– Ich werde zusehen, dass ich euch nicht vergesse, lautete das falsche Versprechen der Tante.
Und da ich glaubte, mich auf sie verlassen zu können, ließ ich mich wiegen von dem Raunen der Stimmen der Erwachsenen im großen Wohnzimmer.
So schliefen wir Mädchen zusammen im großen, hohen Messingbett ruhig ein . . . Seltsamerweise erschien uns dieses Essen vor dem Morgengrauen, das aus süßem Couscous (mit Erbsen oder Nüssen oder Rosinen) mit kalter Milch bestand, schon im Voraus als überaus köstlich! Das Essen im Halbdunkel, mit vom Schlaf verquollenen Augen, dann sofort wieder weiterschlafen . . .
Aber die Tante weckte uns nicht . . . Wenn ich am Morgen feststellte, dass sie ihr Versprechen nicht gehalten hatte, stand ich enttäuscht auf, fast schmerzerfüllt, mitunter auch von Schluchzern geschüttelt.
Selbstverständlich fastete die Tante; uns brachte sie mit einem verstohlenen Lächeln den Milchkaffee auf einem Tablett. Da wir uns gegenseitig angefeuert hatten, weigerten wir uns: „Wir werden trotzdem fasten!“ Aber dann entschied sie ernst, mit beinahe priesterlicher Stimme:– Nein, meine beiden Lieben, es wäre Sünde, nämlich ein Fasten, das nicht aus dem Gewissen kommt!
Die Kusine, schlagfertiger oder in dieser Sache besser unterrichtet als ich, lehnte sich auf:– Wir sind mit dem festen Entschluss ins Bett gegangen, zu fasten! Darauf kommt es an! Wir werden fasten!– Wir hielten höchstens zwei Stunden durch, nicht mehr. Zwar ließen wir den Milchkaffee stehen, nicht jedoch das aufgewärmte Ragout, das die Tante uns zum Mittag zubereitete. Wobei sie uns erneut versprach:– Morgen werde ich euch vor dem imsak wecken!
Ich erinnere mich noch, dass in den folgenden Tagen zwischen meiner Kusine und mir ein Pakt geschlossen wurde: Eine von uns beiden sollte wenigstens nur „mit einem Auge“ schlafen! Beim geringsten Geräusch mitten in der Nacht musste sie dann die andere wachrütteln: Rasch sprangen wir oben aus dem Bett hinab, rannten dann ins Esszimmer, wo im gedämpften Licht die Erwachsenen beinahe schweigend aßen.
In unsere weißen Hemden gehüllt, erschienen wir vor den Großen als Abbild ihres schlechten Gewissens. Und die ihr suhur aßen, lachten laut heraus. Eine der Kusinen oder eine der Mütter erbarmte sich, machte uns Platz und streichelte uns sogar. Ruhig und zufrieden aßen wir im Kreis der Erwachsenen – zwei nächtliche Prinzessinnen.
So fasteten wir weiter bis zum vierten oder fünften Tag im Ramadan. Am Ende waren Frauen und Männer stolz auf uns. Seither war es undenkbar, uns vor dem imsak zu übergehen.
Besitzt deshalb dieses arabische Wort für die Dämmerung seither in mir dieses Leuchten, löst eine geheime, plötzlich stille Freude aus?
Jetzt fällt mir ein, dass wir im folgenden Sommer bereits sieben Jahre alt waren. Ganz selbstverständlich durften wir nun die zweite Etappe der Initiation in Angriff nehmen: das Fasten im Wechsel, das heißt Fasten jeden zweiten Tag. Im Scherz beschrieben es die Kinder folgendermaßen:– Am ersten Tag faste ich wirklich, am zweiten faste ich nur „unter der Zunge“, am dritten faste ich wieder wirklich, und so weiter . . .
So übt man sich etappenweise im Rhythmus und in der Dauer des Monats Ramadan: das zehrende Fasten tagsüber, die Gaumenfreuden – und die Freuden anderer Sinne – durchwachter Nächte und der Schlummer, allerdings aufgehoben im Augenblick des imsak.
Mit sieben Jahren also (in dem Alter, wo das Gebet des Gläubigen als vollwertig betrachtet wird) fastet das Kind einen Monat lang, aber nur jeden zweiten Tag. Diesen ständigen Wechsel, einen ganzen Mondmonat lang, habe ich als holprige Zeit in Erinnerung, als eine Art langsamen Tanz. Es fällt gewiss nicht leicht, wieder Atem zu schöpfen, aber nach und nach wird diese Disziplin zu einer Übung in Selbstbeherrschung: Man versucht nun nicht mehr, zu den Großen zu gehören, sondern man lernt, es zu sein, mitunter von plötzlicher Mutlosigkeit eingeholt . . .
Das Wichtigste an diesem zweiten Ramadan, der so in gleichsam binärem Rhythmus gelebt wurde, war, dass ich plötzlich zur einzigen Zeugin meiner selbst wurde – meiner geheimen, schwächer werdenden Freuden, meiner Sehnsüchte und des Heißhungers, den ich nun beherrschte . . . Und immerzu dieser imsak, der allerdings nun meine Nacht unterbrach, meine eigene Nacht!
Der Muslim, der „Gottgehorsame“, ist allein: allein vor Gott. Weder Kirche noch Hierarchie, weder Bischof noch Kalif, weder Mann noch Frau können sich zwischen den Einzelnen und seinen Schöpfer stellen.
Es ist diese Einsamkeit, in der man niemals allein ist, weil Gott einen immer sieht. Er sieht mich, die ich mich ihm durch dieses zweite Fasten im alternierenden Rhythmus nach und nach annähern konnte: am einen Tag ein sorgloses Mädchen, am anderen fastend, allerdings nur für Gott, nicht um der Eitelkeit willen! Auch nicht für die anderen, die „Großen“, oder um der alten Tante willen, die uns nie aufwecken wollte, damals, als wir kleine Mädchen waren . . .
Aus dem Französischen von Hans Thill
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