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Energieteufel Wolf

Das Triebhafte wird nicht mehr bekämpft oder eingedämmt, sondern nutzbar gemacht: Warum die Zeit des Wolfs ebenso längst gekommen ist wie die der Prostituierten und die des Partisans

Neu ist, dass nun mehr und mehr Frauen sich der Wolfsforschung widmen

von HELMUT HÖGE

Es ist gesagt worden, dass die alten Wolfspfade in den riesigen Wäldern zwischen Weißrussland, Litauen, der Ukraine und Polen erst als Holzpfade, dann als Schleichwege von den Partisanen im Zweiten Weltkrieg benutzt wurden und jetzt von Schlepperbanden, die Flüchtlinge, vor allem aber junge Frauen als Prostituierte, in die Schengen-Länder schleusen. Gejagt wurden und werden sie alle drei.

In vielen Kulturen gehört der Wald zum Ursprungsmythos – erhoffte man sich durch den Rückzug in den Wald eine Art Wiederauferstehung. Simon Shama hat in seiner Studie über „Den Traum von der Wildnis“ einige dieser heiligen Haine durchforstet: in Polen den Urwald von Bialowieza (Podlasien), der Rumpfheimat des Wisent, aber auch aller echten Männer, sowie der polnischen Outlaws und Partisanen. Ferner Jagdgebiet der Könige, zuletzt das Revier von Göring – und Ausgangspunkt der polnischen Forstwirtschaft, die oft Beziehungen zu den Partisanen hatte.

So gehörte zum Beispiel zu den Partisanen, die sich nach der Niederschlagung des Warschauer Aufstands Ende 1830 und der Auflösung Polens in die Wälder von Podlasien – der Puszcza – zurückzogen, auch Emilie Plater, „eine Soldatin, aus deren Familie zu Beginn des Jahrhunderts Forstbeamte gekommen waren“ (Simon Shama). 100 Jahre später erklärte die Pilsudski-Regierung den Urwald zu einem der ersten drei polnischen „Nationalparks“. Im Wald finden die ersten Gefechte zwischen Nationalökonomie und -ökologie statt! Mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen flüchteten auch viele Juden als Partisanen in die Wälder – sie kamen „in eine neue Welt“, schreibt Simon Shama, „... die Veteranen, die sich als ‚Wölfe‘ bezeichneten, waren von allen Generationen der ‚Puszcza‘-Kämpfer die verzweifeltste“. Nach 1945 versteckten sich auch Deutsche in den Wäldern, wo sie sich zu antikommunistischen Partisanengruppen zusammenfanden. Erst in den Fünfzigerjahren gelang der Roten Armee die Liquidierung der letzten „Waldmenschen“, wie die Illegalen in Litauen hießen, die jungen nannte man „Wolfskinder“.

Die Mythifizierung des deutschen Waldes begann mit dem römischen Ethnologen Tacitus, der die Germanen als edle Wilde pries. Als Urheld des Widerstands gegen die korrumpierende (römische) Moderne gilt seitdem Hermann der Cherusker, der im Jahre 9 n. Chr. eine ganze römische Armee im Teutoburger Wald niedermetzelte. Als es darum geht, die französische Moderne wieder aus Deutschland zu vertreiben, d. h. den Guerillakampf gegen die napoleonischen Truppen aufzunehmen, veröffentlicht Heinrich von Kleist „Die Hermannschlacht“. Für den Germanisten Kittler ist das Drama „Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie“. Für den damaligen Chefstrategen der Befreiungskriege, Freiherr vom Stein, markierte dagegen die Insurrektion des Freikorps von Major Schill den Anfang. Immer wieder riet er ihm, statt sich in Festungen zu verschanzen, in die norddeutschen Moore zurückzuziehen, um von dort aus wie die Wölfe über den Gegner herzufallen.

An der Ems hatten seinerzeit schon Hermanns Partisanen die feindliche Übermacht zermürbt: „Tagelang zappelten die römischen Truppen in den Sümpfen und versuchten sich gegen Überraschungsangriffe der cheruskischen Kämpfer zu wehren“, schreibt Simon Shama, für den „sich die klassische Zivilisation immer im Gegensatz zu den Urwäldern definiert hat“. Überblickt man die verschiedenen Waldkulturen, dann flüchteten sich dort stets die (illegalen) Wölfe hinein – und heraus kamen (legale) Hunde, aber umgekehrt genauso. Und diese Verwandlung wird gerade wieder forciert.

„In der klaren, milden Vollmondnacht des 6. Mai durchquert ein junger Wolf Stockholm“, schrieb jüngst Hanns Zischler in der Sonntagsausgabe der FAZ. „Ohne eine Spur von Panik eilt er in raschem Trab“ über Plätze und Brücken, „ehe er im Norden die Stadt verlässt und in den Wäldern verschwindet.“ Es ist wahrscheinlich, dass der Wolf „Stockholm by night“ – ohne Hunde, mit Prostitutionsverbot und faktischer Alkoholsperre für ebenso einsam, jedoch so sicher wie seine heimatlichen Wälder hielt. Eine logische Folge des nordischen Sozialstaats!

Angesichts des sich vom Oberlausitzer Truppenübungsplatz langsam über die stillgelegten Tagebauflächen ausbreitenden Wolfsrudels in der Muskauer Heide erklärte vor kurzem der dazu vom Spiegel interviewte Wolfsforscher Christoph Promberger: „Wölfe sind Opportunisten“ – sie brauchen nur zwei Dinge: „ausreichende Nahrung und Sicherheit“. Der Carnivora-Experte erwähnte als ein weiteres Beispiel die „italienischen Spaghettiwölfe“, die sich in den Vororten Roms von Nudelresten ernähren, sowie die eher hartgesottenen rumänischen Wölfe – im Stadtpark von Brasov, die sich nachts an hungrigen Hunden schadlos halten und morgens „im Berufsverkehr“ untertauchen – wie in einem Dickicht.

In vielen Teilen Europas werden bereits – mit wachsendem Abenteuer-Wildlife- und Wolfstourismus – so genannte „Wolf-Management-Masterpläne“ wirksam. Der noch neue Gedanke einer Hegung statt Ausrottung betrifft aber auch die anderen Illegalen. In Holland und Deutschland sind inzwischen die Prostituierten legalisiert. Und immer mehr Partisanen (aus ehemaligen Befreiungsbewegungen) finden eine Anstellung als Söldner bzw. Zeitfreiwillige. Neuerdings stellt sogar das US-Militär Afghanistan-Veteranen der Roten Armee als Söldner gegen die Taliban-Partisanen ein. Welch ein Hin und Her. Zugleich wird unter Politologen die überholte Fixierung der Staatsmächte auf Territoriales kritisiert – und die Anerkennung der Autonomie von Untereinheiten gefordert, was für die Illegalen einer „Legalisierung en masse“ gleich käme. Bis dahin vermehren sich die „Grauzonen“.

„Jin Roh“ nennt der japanische Zeichentrickfilmer Hiroyuki Okihura seinen gerade in Berlin angelaufenen Wolfs-Film, in dem sich – laut Berliner Zeitung – „Terror und Gegenterror die prekäre Waage halten“. Das Wolfsdrama spielt jedoch nicht im Wald oder im Kaukasus, sondern in der Kanalisation von Tokio, wo die hübsche Selbstmordattentäterin von einem „Wolf“, der Antiterrorspezialist einer gleichnamigen Polizeibrigade ist, in die vorzeitige Explosion getrieben wird. Bei der Wiederaufrichtung ihres traumatisierten Killers rätseln seine Ausbilder, ob das Wölfische ihm zur zweiten Natur geworden ist oder ob ihn die Liebe – zur Schwester der Terroristin –- doch noch retten könnte. Diese „Frage“ kommt jedoch laut Berliner Zeitung „nicht zu einem notwendigen Schluss“, obwohl „sich beide Gefährten als Figuren in einem politischen Intrigenspiel erweisen“.

Dies ließe sich angesichts der anschwellenden Auswanderungswelle aus Brandenburg, der die Wiederansiedlung von Wölfen dortselbst auf dem Fuße folgt, auch von den zwei inzwischen berühmten, in der Schorfheide eingehegten Wildwölfen Naum und Nina sagen. Soeben wurden sie von einem Fotografen für den Spiegel nachts bei der Paarung geknipst. Schon setzen immer mehr Guerillagruppen – in Tschetschenien und in Anatolien etwa – mit einem Wolf in ihren Erkennungszeichen und Wappen auf den World Wildlife Fund und ähnliche Hilfsorganisationen für bedrohte Populationen. So wie man früher die Reste wilder Kulturen zu konservieren trachtete, um uns vor gleichmacherischer Verarmung zu schützen, soll nun trotz Hightech-Machbarkeitswahn an die Ursprünglichkeit des Kampfes erinnert werden. Terror ergo sum.

Der Wolf ist schwer im Kommen! Die Zeit ist nicht mehr fern, wo man jedem Jung-Rudel, wenn es sich nur ungebührlich genug aufführt, sofort ein Revier zuweist. Mit der gleichen Schnelligkeit werden Partisanenbanden immer wieder zu neuen Soldaten – mindestens Grenzschützern und Polizisten bzw. Sicherheitsunternehmen – umformatiert. Im Endeffekt kriegen wir es mit einer permanenten Konversion zu tun. Der Philosoph Jean Baudrillard sprach einmal vom „Energieteufel Kapitalismus“. Dieser schafft es immer eleganter, alles Triebhafte und Wilde, statt es zu bekämpfen und einzudämmen, nutzbar zu machen.

Die Zeit ist nicht mehr fern, wo man jedem Jung-Rudel sofort ein Revier zuweist

Der Spiegel spricht von einer „Rückkehr des grauen Wanderers“, die FAZ von „der langen Nacht des Wolfs“, und die Berliner Zeitung von der „Zeit des Wolfs“. Allein die proletarische Bild-Zeitung blies erst zur unbarmherzigsten Jagd – auf den dreibeinigen polnischen Wolf Naum und seine vermeintlichen Mischlings-Nachkommen im Märkischen, weil sie auf ewig „unberechenbar“ bleiben würden – und schwenkte dann aber auch um 180 Grad um, indem sie das Raubtier flugs zum besten „Naturschützer“ überhaupt erklärte. Bisher wurden dort eher ihre legalen Konkurrenten – die 330.000 registrierten deutschen Jäger – dafür hoch gehalten. Bei den Prostituierten und Partisanen steht eine Berichterstattungswende wie beim Wolf noch aus – bahnt sich aber bereits an. Gemeinsam ist den dreien, dass sie nachtaktiv sind und außerdem alle Kampfnamen tragen: Lenin, Stalin, Mata Harti, Nitribitt, Iwan, Die Bestie von Gevaudan usw. Während jedoch das Pseudonym des Partisanen bei seinem Tod auf die Brigade übergeht und er so namentlich unsterblich wird, legen die Prostituierten ihren Kampfnamen ab, wenn sie wieder zurück ins legale – bürgerliche – Leben überwechseln. Und die Namen der Wölfe stammen sowieso von ihren Gegnern, den Menschen.

Neu ist, dass nun mehr und mehr Frauen (mit Doppelnamen) sich der Wolfsforschung widmen. Auch im „Wolfs-Chatroom“ des Internets hat eine junge Wolfs-Hobbyforscherin das letzte Wort. Daneben machen auch immer mehr Soldaten- bzw. Partisanen-Forscherinnen mit ihren Ergebnissen von sich reden. Erwähnt seien die Interviews von Swetlana Alexijewitsch mit Afghanistankämpfern „Zinkjungen“; Gaby Webers Buch über lateinamerikanische Partisanenführer „Die Guerilla zieht Bilanz“; „Mehmets Buch“ von Nadire Mater über türkische Soldaten, die gegen die PKK kämpften; Anne Nivats Bericht über die tschetschenischen Rebellen: „Mitten durch den Krieg“; Anjana Shrivastavas Studien über die Bundeswehr in Ostdeutschland, Hilal Sezgens Öko-Kritik an deutschen Jägern, und Elisabeth Madleners Doktorarbeit über Kleist.

Gleichzeitig gibt es immer mehr Prostituierte, die ihre Profi-Erfahrungen mit Männern veröffentlichen. Was die anderen betrifft, so erfuhr ich neulich von einer, die sich Nadja nennt: „An manchen Tagen habe ich schon mehr Journalisten und vor allem Journalistinnen – als Freier. Ist mir aber auch recht, die zahlen alle dasselbe: 100 Mark für 30 Minuten“. Gemeinerweise bekommt diese Frau als ausländische – illegale – Prostituierte nur dann ein temporäres Bleiberecht hier, wenn sie dafür der Polizei den Namen mindestens eines illegalen Landsmannes – als Schlepper – verrät. Dies ist Ausdruck eines verstärkten Konkurrenzkampfes – zwischen der Einwanderungspolizei und den Menschenschmugglern. Er wird vor allem an Oder und Neiße ausgetragen. Ebenso wie an dieser Grenze sollen jetzt auch in Afghanistan – laut FAZ am Sonntag – deutsche „Schäferhunde gegen Terroristen“ (d. h. gegen Partisanen) eingesetzt werden.

Während die Frauen in der Berichterstattung hier wie dort nur als „Opfer“ vorkommen, wird es den Männern immer öfter nahe gelegt, als einsame „Wölfe“ (Enzensberger) oder engagierte „Befehlsempfänger“ (Droste), mindestens als mutwillige „Kunden“ (Nadja) – durchzustarten. Neuerdings sogar von Frauen – z. B. von Donna Boyd in „Das Haus der Wölfe“, aber schon ihr nächstes Buch heißt „Schneewölfin“ und nähert sich damit dem pornografisch verfilmten feministischen Thriller „Wölfe fangen“ von Virginie Despentes an.

Dazu fällt dem männiglichen Schuldirektor Günter Neidinger nur ein trotziges „Wir sind die Wölfe“ (im Favorit-Verlag) ein – um den Kindern die Angst zu nehmen! Ähnlich dachte bereits der Anti-Hitler-Terrorist Henning von Tresckow über die von seinem Biografen Bodo Scheurig so genannte „Wolfsgesellschaft“-Deutschland: „... es wird lange dauern, bis das zersetzende Gift dieser Zeit ausgemerzt ist“, aber „sonnenklar, wir müssen da durch!“

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