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wir lassen lesenFußball-WM als packende Sozialgeschichte

Wunderteam und Treter-Turnier

1950 sprachen die englischen Zeitungen von einem „zweiten Dünkirchen“ angesichts der Katastrophe, die sich da im fernen Belo Horizonte abgespielt hatte. So bizarr schien das Ergebnis in der Vorrunde der Fußball-WM 1950 in Brasilien, dass einige Blätter zunächst an einen Druckfehler geglaubt und die 0:1-Niederlage gegen den Fußballzwerg USA kurzerhand in einen 10:1-Kantersieg umgemünzt hatten. Aber es stimmte: Das englische Team mit Stars wie Alf Ramsey und Billy Wright, das mit drei Millionen Dollar bei Lloyds versichert worden war, hatte gegen die US-Boys verloren. Nach einer weiteren 0:1-Niederlage gegen Spanien fuhren die hochbezahlten Profis nach Hause. Ein Debakel. Das arrogante Selbstverständnis von England als Nabel der Fußballwelt hatte schwer zu leiden.

Die erste Niederlage in Wembley drei Jahre später sorgte für Depressionen. Mit 3:6-Toren verloren hölzern wirkende Engländer gegen ungarische Fußballästheten. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jene Kunst, die damals von Bozsik, Kocsis, Hidegkuti, Puskas und Co. zelebriert wurde, wiederholt oder gar übertroffen werden kann“, schrieb später Augenzeuge und Fußballautor Karl-Heinz Huba. Spätestens nach der 1:7-Blamage bei der Revanche in Budapest hatte der britische Fußball seinen exzellenten Ruf verspielt.

Das sind nur zwei Episoden aus der 480 Seiten starken „Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften“, mit der Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp ein Standardwerk vorgelegt haben dürften. Die beiden Autoren begnügen sich beileibe nicht mit den üblichen Statistiken, sondern sie betten die großen Turniere souverän ein in den kulturellen, sozialen und organisatorischen Mantel des internationalen Fußballs und der jeweiligen Gastgeberländer. Zusätzlich darf sich der Leser auf Exkurse freuen über Themen wie „Das Wunderteam, das nie Weltmeister wurde“ oder den Spieler Maradona. Biografische Miniaturen wichtiger Spieler und Trainer runden das Kompendium ab.

Die Geburtsstätte der Fußball-Weltmeisterschaft bildeten die Olympische Spiele. 1928 in Amsterdam beschlossen die Fifa-Funktionäre – genervt davon, dass das Internationale Olympische Komitee (IOK) das Fußballturnier zwecks Finanzierung der ganzen Spiele Monate vor dem eigentlichen Termin austragen ließ – die Sezession. Die endgültige Loslösung vom Amateurideal der Olympier, das für den internationalen Fußball ohnehin keinen Sinn machte. Zum Weltereignis war es indes noch weit; die erste WM 1930 in Uruguay spielten nur dreizehn Teams aus, darunter vier aus Europa. Viele sagten ab aufgrund des noch geringen sportlichen Werts oder wegen der langen und teuren Reise. Es dauerte bis zu den 50er- und 60er-Jahren, bis sich das Turnier zu dem entwickelte, was es heute ist: Das zweitgrößte Sportereignis der Welt nach den Olympischen Spielen. Jetzt erst wurden die ersten Teams aus Asien oder Afrika wirklich beteiligt, jetzt erst sorgte der mediale Einsatz für die notwendige Verbreitung.

Das Zusammenwachsen äußerst verschiedener Fußballkulturen und -verbände war nicht frei von Komplikationen, wie die WM 1962 in Chile bewies, die in diesem Buch als „Turnier der Treter“ bezeichnet wird. Nach der wohl härtesten Partie der WM-Geschichte, einer wahren Schlacht zwischen Italien und Chile, dachte Fifa-Chef Rous tatsächlich an separat auszuspielende Meisterschaften. „Wir kommen nicht mehr zueinander“, meinte er, „es hat keinen Sinn mehr. Ich halte es für das Beste, wenn in Zukunft die Südamerikaner ihre Meisterschaft ausmachen und wir Europäer unsere.“ 36 Jahre später waren diese Probleme passee – im Rahmen der WM 1998 in Frankreich beteiligten sich insgesamt 198 Nationen an Qualifikation und Turnier.

ERIK EGGERS

Dietrich Schulze-Marmeling/Hubert Dahlkamp: „Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaften“. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2001, 480 Seiten, 48,70 DM (24,90 €)

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