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Nagelprobe Kundus

Besuch bei der Nordallianz an der Front vor Nordafghanistans einziger paschtunischer Stadt

aus Imam Sahib BERNHARD ODEHNAL

Kommandant Rauf Ibrahimi lächelt selten, doch beim Gedanken an den baldigen Sieg über die Taliban zieht er die Lippen doch kurz nach oben. Noch dazu soll es ein unblutiger Sieg werden, ein militärischer und moralischer Triumph der Nordallianz.

Seit über einer Woche war die nordostafghanische Großstadt Kundus, die von den Taliban und verbündeten Kämpfern aus Pakistan, Tschetschenien und arabischen Staaten gehalten wird, von Truppen der Nordallianz eingekreist. Die Zahl der Eingeschlossenen ist unklar. Mal war von 30.000 Kämpfern, mal von 12.000 die Rede. Auch um die Rolle der „Ausländer“ rankten sich viele Geschichten. Fliehende Taliban berichteten, sie seien von Pakistani und Arabern zum Kämpfen gezwungen worden. 280 Taliban hätten desertieren wollen und seien von den „Ausländern“ erschossen worden.

Aber je näher man zur Front kommt, desto zweifelhafter werden solche Geschichten. In Dascht-i Qala, einem Dorf rund 80 Kilometer nördlich von Kundus, berichtet ein Kommandant der Nordallianz, dass Pakistans Luftwaffe in den Nächten zuvor ausländische Soldaten aus Kundus ausgeflogen und so in Sicherheit gebracht habe. Rauf Ibrahimi, Kommandant an der Nordfront vor Kundus, weiß davon hingegen nichts. Die Ausländer seien schon geflohen, bevor die Nordallianz den Belagerungsring schließen konnte, sagt er. Auch die Berichte über ermordete Taliban glaubt er nicht.

Ibrahimi kommandiert von Imam Sahib aus, einer Kleinstadt 60 Kilometer nördlich von Kundus. Die Nordallianz eroberte Imam Sahib vor zwei Wochen. Viele Usbeken und Tadschiken, die vor den Taliban flohen, kehren langsam zurück. Ihre wenigen Habseligkeiten haben sie auf Esel gepackt. Reichere Händler bringen ihre Waren auf Kamelen zum Markt. Autos sind dem Militär vorbehalten. Durch die tiefen Furchen der Lehmstraßen fahren nur hoch beladene Lastwagen oder „Ziegenbock“ genannte russische Jeeps. Überall patroullieren junge Soldaten. Die Frauen tragen noch immer die Burka, den Ganzkörperschleier mit dem Gitter vor dem Gesicht. Auch die neuen Herrscher mögen keine weiblichen Gesichter in der Öffentlichkeit sehen. „Das ist bei uns Tradition, und die Frauen wollen es selbst so“, erklärt ein junger Afghane.

Viele Taliban, die aus Imam Sahib stammten, seien nach der Eroberung der Stadt durch die Nordallianz geblieben, sagt Rauf Ibrahimi: „Sie sind zu uns gekommen und dürfen hier weiterleben. Nur die Fremden, jene Taliban, die aus dem Süden kamen, die sind alle geflohen.“ Nun soll auf ähnliche Art in Kundus die Macht wechseln – ohne weiteres Blutvergießen. Die Verhandlungen vom Mittwoch, als sich Kommandanten der Nordallianz und der Taliban an der Frontlinie zu Gesprächen trafen, waren ein großes Spektakel. „Wir waren 200“, berichtet Mohammed Scharif. „15 Kommandanten von uns, 7 von den Taliban, alle mit Waffen und Leibwächtern.“ Nach drei Stunden erzielte man ein vages Resultat: Die Taliban geben ihre Waffen ab und erhalten freies Geleit in Richtung Kandahar. Die Nordallianz verpflichtet sich, keine Rache zu nehmen. Dann wanderte die gesamte Delegation weiter nach Masar-i Scharif. Denn Kommandanten gibt es viele in der Region, aber wirklich wichtig ist dort das Wort des Warlords Raschid Dostam. Erst wenn er zustimmt, kann der Vertrag umgesetzt werden.

Ein Abzug der Taliban aus Kundus bedeutet aber noch keinen Sieg der Nordallianz. Zumindest keinen moralischen Sieg. Kundus ist die einzige Stadt im Norden mit paschtunischer Mehrheit. Die Taliban hielten sich hier nicht, weil ihnen ausländische Kämpfer halfen, sondern wegen der Unterstützung der Paschtunen. Kundus kann deshalb zu einem Modell werden: Schafft es die usbekisch und tadschikisch dominierte Nordallianz, hier das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, könnte es auch anderswo gelingen. „Die Paschtunen haben Angst vor uns“, weiß Kommandant Ibrahimi, der sich in Imam Sahib auf den Marsch nach Kundus vorbereitet. „Aber dafür gibt es keinen Grund. Wir werden sie gut behandeln. Wir haben aus unseren Fehlern gelernt.“

Der Autor ist Auslandsredaktor der Zürcher Weltwoche

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