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Mythos vom fröhlichen Schwänzer

Hinter Kindern, die nicht zur Schule gehen, stehen oft Familien in Not  ■ Von Kaija Kutter

„Schule oder Arbeit schwänzen und zur Musik vom Farin dancen.“ Womit in Hamburgs S-Bahnen fröhlich für eine CD geworben wird, täuscht über die Wirklichkeit hinweg. „Das Bild vom fröhlichen Schwänzer ist ein Mythos“, warnte der Brandenburger Pädagoge Karlheinz Thimm vor rund 200 Hamburger Pädagogen und Psychologen auf einer Fachtagung der Erziehungsberatungsstellen.

Schulverweigerung sei fast nie selbst gewählt. „Das Leben entwi-ckelt sich dahin.“ Nur wenige „Edelaussteiger“ hätten später im Kultur- und Medien-Bereich eine Chance. „Die meisten sind Verlierer.“ Nur die Hälfte aller Schüler ohne Abschluss holt ihn später nach.

Schwänzer seien zudem nicht faul, sondern entmutigt. So haben zwei Drittel massive Leistungs- probleme, gleichzeitig glauben die meisten Lehrer, dass Schulschwänzer hinter ihren Fähigkeiten zurückbleiben. Gefährdet, so Thimm, seien vor allem Schüler, deren „Bindungen zu Lehrern und Mitschülern“ nicht intakt sind, die „keinen Anker in der Klasse haben“.

Die empirische Lage zu dem Tabu-Thema ist dürftig. In Hamburg wurde 1999 eine Behördenumfrage gemacht, wonach rund 800 Schüler dauerschwänzen. Karlheinz Thimm, der in Brandenburg ein Projekt für 35 „harte Schulverweigerer“ begleitete und auch ein Buch zum Thema schrieb, schätzt, dass etwa jedes zehnte Kind sieben Stunden und mehr pro Woche schwänzt. Meist sind es Kinder der 7. und 8. Klasse, die oft massive Probleme im Elternhaus haben. Thimm erklärt: „Hinter diesen Kindern stehen oft Eltern in Not.“ Besonders gefährdet wären Kinder aus Familien mit Sprach- und unsicherem Aufenthaltsstatus, die oft zu Hause bleiben, den Müttern helfen oder übersetzten müssten. Oder auch Familien mit sozialen Problemen, bei denen es im Eltern-Kind-Verhältnis „Autoritätslücken bis hin zum Rollentausch“ gebe.

Die Mädchen, die 35 Prozent der Schwänzer ausmachen, bleiben eher aus Angst vor Schulversagen weg, während Jungs häufig auch die Gewalt ihrer Mitschüler fürchten. Ein Drittel aller Schulverweigerer kommt aus „normalen“ Familien. Das Problem liege oft „auch auf der Ebene der einzelnen Schule“, glaubt Thimm. Gut geführte Schulen seien weniger von Schul-abstinez betroffen. Thimm: „Es gibt Lehrer, die schon nach dem zweiten Fehltag beim Schüler klingeln oder durch den Briefschlitz rufen.“ So genannte „aufsuchende Schulen“ hätten so ihre Fehlquote um ein Drittel senken können.

Gute Chancen, Kinder wieder in den Schulalltag zu intergrieren, sieht der Experte, wenn die Sache pädagogische Gründe hat, die sich leicht aufklären lassen und die Eltern das Schwänzen als Problem erleben. Wichtig sei auch eine schnelle Reaktion.

Eben darauf ziehlt auch der neue Maßnahmenkatalog ab, den Hamburgs Schulbehörde bereits im Januar für Schulschwänzer erließ. So sind die Schulen verpflichtet, Anwesenheit zu dokumentieren und nach längerem Fehlen einen Hausbesuch zu machen. Spätestens nach sieben Wochen muss der „Fall“ den Schulpsychologen der Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstellen (Rebus) gemeldet werden, die gegebenenfalls auch Jugendsozialarbeiter hinzuziehen.

Umstritten war das Paket wegen seines repressiven Teils. So können Eltern und Jugendliche mit einem Bußgeld zwischen 10 und 2000 Mark belegt werden. „Dies ist aber nur die letzte Maßnahme, wenn beratende und therapeutische Prozesse nicht greifen“, beteuert Rebus-Leiterin Renate Plan-Hübner. 40 mal sei bereits ein Bußgeld verhängt worden, einige Schüler gingen deshalb wieder zur Schule.

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