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Schnee von gestern

Besuch beim Experten für Schneekugeln

von GABRIELE GOETTLE

Erwin Perzy (III.). Fabrikant von Schneekugeln, Reiseandenken, Neujahrsglücksbringern. 2. 9. 1963–30. 6. 1967 Volksschule i. Wien. 1967–1971 Hauptschule 1. Zug. 1971–1972 Polytechnikum. 1972–1976 Werkzeugmacherlehre, 26. 2. 1976 Gesellenprüfung. Militärische Dienstleistung bis 30. 11. 1976. Vom 1. 12. 76 bis 30. 11. 1980 Werkzeugmachergeselle b. d. Firma Perzy. 2. 7. 1980 Ablegung der Meisterprüfung. Gewerbeanmeldung als Spielzeughersteller und Übernahme des Betriebes am 5. 4. 1985. Handelsgewerbeschein 5. 5. 1991. G. Perzy unternahm seit 1985 zahlreiche Reisen innerh. Europas, i. d. USA, n. Südostasien, i. arab. Länder u. n. Osteuropa, besuchte Messen, pflegte Kontakte z. Kunden u. Sammlern. Erwin Perzy wurde am 20. Oktober 1956 um 16.25 Uhr in Wien geboren, als Sohn von Rosa Perzy, geb. Fischer (geb. 19. 10. 1921) und Erwin Perzy (II., geb. 19. 10. 1919), Nähmaschinen- & Fahrradmechanikermeister, und als Enkel v. Erwin Perzy (I.), Mechanikermeister f. Chirurgieinstrumente u. Erfinder. Erwin Perzy (III.) war vom Oktober 1989 bis Oktober 2000 verheiratet u. hat eine Tochter.

Die Schneekugelmanufaktur von Herrn Perzy liegt in Hernals, dem 17. Wiener Gemeindebezirk. Wir fahren mit der U6 bis zur Volksoper, von dort mit der Straßenbahnlinie 24 bis zur Klostergasse, spazieren vorbei am Haus der Barmherzigkeit, Spital des Lazaristenordens, entlang an den zusammenhängenden, balkonlosen Fassaden dreistöckiger Zinshäuser, die meisten aus der Zeit der Jahrhundertwende, gegliedert durch ein wenig Stuck, durch Simse und Sprossenfenster. Balkons waren in solchen Bezirken Wiens nicht üblich, man findet sie eher an den alten Wohnungen der Großbourgeoisie in der Innenstadt. Hernals war traditionell das Quartier von kleinen Gewerbetreibenden, Arbeitern und Handwerkern. In der Schumanngasse hängt an einem Eckhaus eine Tafel zum Gedenken an drei hierorts berühmt gewesene Fiaker (Fiaker sind Mietkutscher, samt Kutsche und Pferdegespann, benannt nach einem irischen Pferdeheiligen des 7. Jahrhunderts, dem Mönch Fiacrius).

Noch ein paar Schritte und wir erreichen den Betrieb von Herrn Perzy in der Schumanngasse 87. Das Haus ist als einziges hier nur zweistöckig und springt aus der Gassenflucht etwas hervor, unterbricht die Einheitlichkeit der Fassaden. Es ist, so erfahren wir später, das älteste Haus in der Gegend. Vor etwa 200 Jahren, so wird geschätzt, wurde es von einem Fuhrwerksbesitzer erbaut, ab 1900 gehörte es einem Fleischhauer.

Vorn im Parterre war der Laden. Hinten im Hof, wo ehemals Schweine und Pferde geschlachtet wurden und die Wurstküche dampfte, werden seit den 50er-Jahren Schneekugeln und Wiener Silvesterguss hergestellt, und zwar die Originale, beides Erfindungen des Großvaters von Herrn Perzy. Bis heute sind die Perzy’schen Schneekugeln die einzigen der Welt, die auf einem derart hohen Qualitätsniveau gefertigt werden. Auch das macht sie einzigartig.

Wir sind schon sehr gespannt, drücken auf die Klingel neben dem winzigen Namensschildchen – sonst gibt es keinerlei Hinweis am Haus auf einen Schneekugelbetrieb –, wir drücken nochmals . . . vergeblich. Es ist Feiertag. Allerheiligen. Die Gassen sind menschenleer am Vormittag. Als wir gerade resignieren wollen, kommt ein Mann mittleren Alters um die Ecke und strebt schnell auf uns zu. Mit gleichermaßen herzlicher Begrüßung und Entschuldigung schließt er die schwere Eisentür auf und führt uns, vorbei an Kisten voller Bleidrucklettern, die im Hausflur ihrer Einschmelzung und Verwandlung in Gussfigürchen fürs Silvesterorakel entgegenharren, die ausgetretene steinerne Wendeltreppe hinauf in den 2. Stock. Als die Neonröhre aufflammt, haben alle Glaskugeln in den Regalen plötzlich ein Glanzlicht.

„Das sind nur so ein par Muster“, sagt Herr Perzy, „längst nicht alle, leider haben wir das Sortiment gar nicht systematisiert.“ Er lädt uns dazu ein, alles in die Hand zu nehmen und anzuschaun, dann verlässt er uns, um Kaffee zu kochen. Auch Damen Mitte 50 sind berauscht, wenn man sie allein lässt im Lande Vadutz. Elisabeth und ich nehmen mit beiden Händen Kugeln aus dem Regal, schütteln sie und betrachten, wie Tänzerinnen, Lipizzaner, Pinguine, Wallfahrtskirchen, Tannenwäldchen, Madonnen, Schornsteinfeger, Riesenrad und Stephansdom im Schneetreiben verschwinden, wie die Naturgewalt aus unsrer Hand tobt und nach Belieben sich ganz sacht niederlegt in jedem Glas als weiß schimmernde Schneedecke.

Herr Perzy kommt viel zu früh zurück, balanciert auf einem runden Tablett Kaffee, Becher, Süßstoff und ein Kännchen Milch, sucht auf seinem Vitrinentisch einen freien Platz und rückt uns Stühle zurecht. „Alles ist ein bisschen eng bei uns, leider“, sagt er und lächelt, „wenn wir alle unsere Kugeln wirklich hier ausstellen wollten, dann bräuchten wir zwei solcher Räume in der Größe von diesem Büro, mindestens. Ich habs deshalb ins Internet gestellt, auch um das Problem eines Kataloges zu umgehen, da können zum Beispiel auch unsere Kunden aus Japan unter www.viennasnowglobe.at sich ein Bild machen, wir haben ja alle Jahre eine neue Kollektion, kann man sagen. Artikel, die nicht so gehen, nehmen wir erst mal aus der Produktion. Neben den neuen Motiven verwenden wir dann immer wieder mal auch die alten, beliebten. Wir haben im Moment etwa 150 Motive in der Produktion, insgesamt sind es mehr als 200. Wir machen ja alles selbst, bis auf die Glaskugeln – und das Wasser natürlich, das ist seit über hundert Jahren Wiener Hochquellwasser. Mit zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern machen wir alles selbst, was sie hier sehen.“

Herr Perzy, solche Handreichungen offensichtlich nicht gewohnt, sagt: „Also, ich hoffe, dass ich nicht zu viel eingeschenkt habe . . . und was unsere Kugeln betrifft, so hat natürlich, weil wir alles weitgehend selber herstellen, jedes Ding so seine Geschichte.“ Er deutet auf eine der Kugeln unter der Glasplatte des Tisches: „Zu dieser kann ich Ihnen folgende kurze Geschichte erzählen. Dieser Rauchfangkehrer, also das Motiv, stammt noch von meinem Großvater. Der Rauchfangkehrer, den gab es wirklich, er hieß Janowski, hat so ausgeschaut wie der, war dick, mit einem schwarzen Schnurrbart. Das Schweinderl hat er natürlich nicht dabei gehabt, aber die Leiter, und weil er immer Bier getrunken hat, gab ihm mein Großvater einen übergroßen Bierhumpen in die Hand, um den Janowski so quasi etwas zu sekkieren. Den haben wir jetzt weggelassen. So war das eigentlich.

Im Grunde können Sie da alles reingeben, Hauptsache, es ist wasserfest. Wir verwenden Polysterol und bemalen es dann per Hand, das machen Heimarbeiterinnen, mit lösungsmittelfreien Farben. Wir haben Kugeln mit 25, 45, 80 und 120 mm. Je größer das Volumen, umso länger hält das Schneetreiben an, also bis zu zwei Minuten etwa, während in den asiatischen und den anderen Nachahmungen ja mehr so eine Art Steinschlag niedergeht, der nach ein paar Sekunden vorbei ist . . . zum Glück, könnte man sagen. Also, es war so.

Mein Großvater, der wollte ja an sich gar keine Schneekugel erfinden. Mein Großvater war ja Chirurgieinstrumente-Mechanikermeister und war bei den Chirurgen auch beliebt durch seine Erfindungsgabe, so, und eines Tages hat ihm ein Chirurg gesagt. Gehns, Herr Perzy, könnens uns nicht die Kohlenfadenlampe in der Lichtausbeute ein bisserl verbessern? Die Kohlenfadenlampe war damals grade neu erfunden und hat viel Wärme erzeugt und wenig Licht. Aber weil die Chirurgen in den Operationssälen ja mit Auer-Welsbach-Licht, also mit Gasbeleuchtung gearbeitet haben – und Gas rußt, stinkt, ist nicht steril –, hat sich natürlich die elektrische Beleuchtung als absolut ideal angeboten, sie war aber eben zu lichtschwach. Und mein Großvater hat nachgedacht. Da hat er sich an die Schusterkugel erinnert.

Die war besonders in Schuhmacherwerkstätten üblich, eine wassergefüllte Glaskugel, die hing an einem Galgen, zusammen mit einer Kerze. Sie hat durch die Wasserfüllung ja einen Lupeneffekt, sodass das Kerzenlicht, wie durch eine Sammellinse konzentriert und verstärkt, direkt das Arbeitsstück des Schusters beleuchtet hat. Mein Großvater hat die Kerze durch die Kohlenfadenbirne ersetzt und so eine kleine Lichtverstärkung erzielt, aber nicht ausreichend. Also kam ihm die Idee, reflektierende Stoffe ins Wasser hineinzugeben, und hat Flitter genommen, Flitter war damals aus Glas, wie fein zermahlenes Spiegelglas. Es war wieder etwas heller als vorher, er hätte aber jemanden gebraucht, der das die ganze Zeit dreht, damit der Flitter schwebt. Nun kam ihm die Idee, er muss einen reflektierenden Stoff nehmen, der möglichst lange schwebt, der logischerweise fast das gleiche spezifische Gewicht hätte haben müssen wie das Wasser. Er hat alles mögliche probiert, im Keller seines Elternhauses, in seiner Werkstätte, bis er dann ein gutes Ergebnis erzielt hat mit Gries, was aber auch nicht ging, weil der nach einer Weile gärt. Kurz, er hat es nicht geschafft.“ Herr Perzy schenkt uns ein wenig Kaffee nach und fährt ruhig und sich Zeit lassend in seiner Erzählung fort:

„Aber diese Experimente haben ihn an Schneefall erinnert. Und manchmal verdankt sich alles einer Kette von Zufällen . . . Mein Vater hat zu mir immer gesagt, sei froh, dass d’ so schlampert bist, dein Großvater wars genauso, und das war sein Glück. Ich freu mich schon, wenn ich ein Ladl aufmach und find etwas. Ich vergess in meiner Spontaneität einfach auf die Ordnung, auf peinliche Reinlichkeit und so was. Also ein anderer Chef, der hätte wahrscheinlich hier einen Tisch, auf dem stünde gar nichts, bei mir ists eben ein bisserl anders. Und auf dem Tisch meines Großvaters wars ebenso, da hat er einen Zinnguss rumkugeln gehabt, die Wallfahrtskirche von Mariazell, die er für einen Freund angefertigt hatte – der betrieb ein Andenkenstandl in Mariazell.

Er steckte die Kirche probeweise ins Glas, und das war der Moment, in dem er die Schneekugel erfunden hat, ohne es gleich zu bemerken. Den Sockel hat er auf einer Drehbank aus einem alten Tischfuß gemacht und ihn mit Schuhpaste schwarz gemacht und ein bissel poliert. Wir bieten zwar heute auch noch Holzsockel in verschiedenen Sorten an, unser Standardsockel ist aber aus Kunststoff, aus wiederverwerteten Plastikabfällen, wir stellen ihn selber her und färben ihn schwarz.

Mein Großvater hat dann noch einen unverderblichen und leichten Schnee erfunden, der bis heute, wenn auch in einer verbesserten Form, von uns weiterbenutzt wird. Er hat das im Jahr 1900 zum Patent angemeldet. Das war nicht die einzige Erfindung, er hat auch den bis heute beliebten Wiener Silvesterguss sich ausgedacht. Früher wurden ja einfach die Bleiketten, zum Beschweren der Vorhänge und Unterröcke, hergenommen fürs Schmelzen als Silvesterorakel. Mein Großvater hat dann eine Blei-Zinn-Legierung mit niedrigem Schmelzpunkt entwickelt und, damit es sich verkaufen lässt, kleine Glückssymbole zum Einschmelzen gegossen, ein Schweinderl, ein Hufeisen, Pilz, Fisch, Laterne, Kleeblatt. Er hat auch immer auf Sparsamkeit geachtet, er kaufte beispielsweise das alte Zinnblech auf vom Dach der Wiener Universität, als das frisch gedeckt wurde. Und für seine Erfindungen bekam er dann 1908 einen Orden vom Kaiser Franz Josef. Da hatte er schon seinen Spielwarenbetrieb, zusammen mit seinem Bruder, Ludwig Perzy, nach dem der Betrieb anfangs hieß.

Der Betrieb hat sehr schnell expandiert und bald auch ins Ausland exportiert. Sogar nach Indien, nach dem Ersten Weltkrieg wurden 100.000 Zinn-Hähne mit eingebautem Pfeifchen geordert. Ich muss Ihnen sagen, mein Großvater hat es in der Zwischenkriegszeit, als es doch eine sehr große Wirtschaftskrise gegeben hat, geschafft . . . na, nicht gerade zu sehr großem Reichtum zu kommen, aber er hat es zu Wohlstand gebracht mit der Produktion von Neujahrsartikeln und auch Schneekugeln. Die Zeiten waren schlecht, aber seine Ware war sehr preisgünstig, und ein Glücksbringer, der kann immer helfen. Hilft er nix, so schadts nix, bei dem Preis. Der Wiener ist . . . oder der Österreicher . . . eigentlich ein geborener Lebemann, man sagt, verkaufts mei Gwand, i fahr in Himmel, ned, oder, heut spüln die Schrammeln und morgen da fress ma Grammeln . . . und in diesem Segment hat eben mein Großvater diese Ware verkauft.“

Den letzten Satz hat Herr Perzy im Geschäftston gesprochen. Er wechselt überhaupt ständig hin und her zwischen drei Sprechweisen, einem unbefangenen Vorstadtdialekt, einer gehobenen Umgangssprache und der Geschäftssprache, einem von Floskeln durchsetzten, wienerisch eingefärbten Hochdeutsch.

Prüfend betrachtet er uns kurz durch seine leicht getönten Brillengläser und fährt dann fort: „Nach dem Zweiten Weltkrieg war mein Großvater bald schon etwas kränklich und ist in den 60er-Jahren gestorben. Schade ist, dass ich eigentlich nur noch wenige Sachen von ihm habe, was die Schneekugeln betrifft. Die sind bei den Sammlern, ab und zu kommt mal einer, zum Wassernachfüllen. Es gab ja mehrmalige Umzüge, und da ist einiges verloren gegangen, aber manchmal findet sich auch was. „Herr Perzy zeigt auf ein Bild an der Wand, gerahmte Zeichnungen und Fotos. „Diese alten Zettel da, hab ich oben gefunden, rein zufällig.

Das ist der Entwurf meines Großvaters für die erste Schneekugel. Da sehen sie die Mariazeller Kirche, Verschluss und Sockel. Das war die Fasson des ersten Sockels um 1900. Mein Vater hat dann nach dem Zweiten Weltkrieg den Betrieb übernommen von meinem Großvater – im Krieg gabs ja teilweise Betriebsstillstand, und zuletzt musste mein Vater noch einrücken, kam aber glücklicherweise unverletzt zurück. Er war ja Fahrrad- und Nähmaschinenmechaniker und hat nach dem Krieg erst mal Motorräder zusammengebaut und vermietet. Ganz allmählich ist die Produktion wieder in Gang gekommen. In den 50er-Jahren, nachdem mein Vater auf der Nürnberger Spielwarenmesse ausgestellt hat und von den Amerikanern quasi entdeckt worden ist, da kamen dann viele Aufträge plötzlich. Später auch aus Japan, Mexiko, Saudi-Arabien. Und seit 1985 führe ich jetzt den Betrieb und versuche, weil wir ja zu 80 Prozent vom Export leben, die richtigen Entscheidungen zu treffen . . . die Konkurrenz schläft nicht, und ich versuche, die Weichen jetzt so zu stellen, dass sich meine Tochter nicht so wird plagen müssen wie ich.

Sie ist zwar noch ein Kind, sie ist zwölf, aber es ist so, sie ist sehr erwachsen. Ich war es auch. Ich habe immer schon gewusst, was ich wollte, und meine Tochter ist stark in meine Fußstapfen getreten . . . Also, ich lasse ihr alle Optionen offen, ob sie den Betrieb weiterführen will oder nicht. Aber sie sagt mir immer, sie will. Und sie will Werkzeugmacher werden, auf jeden Fall! Das einzige, was sie noch stört, ist, dass sie nicht weiß, aus was der Schnee besteht. Ich habe ihr erklärt, dass es ein streng gehütetes Familiengeheimnis ist. Die Formel, das Rezept und das Herstellungsverfahren, liegt im Tresor eines Anwaltes, und ich bin der einzige, der sie kennt. Wenn es so weit ist und sie sich dann entscheidet, den Betrieb zu übernehmen, dann erfährt sie alles. Zum ersten Mal seit drei Generationen wird das Geheimnis dann an eine Frau weitergegeben – darauf ist sie sehr stolz –, bisher waren es immer Söhne. Bei mir wars so, als ich in den Betrieb eingetreten bin, hat das mein Vater, muss ich Ihnen sagen, auf eine ganz lustige Art gemacht. Er sagte, pass auf, so machen wir den Schnee, so und so. Aber ich sags dir gleich, des gehört verbessert!“ Herrn Perzys eher ins Melancholische spielende Gesichtszüge hellen sich ein wenig auf.

„Und ich habe ihn verbessert . . . vielleicht hat meine Tochter noch eine Idee. Verbessert heißt jetzt, der Schnee fällt langsamer als vorher. Die Produktion von Schnee war früher sehr aufwändig. Ich hab jetzt eine Maschine gebaut, zu Hause, in meinem Kapäuschen – ich habe ja während meiner Lehrzeit noch Steuer- und Regelungstechnik gemacht und bau mir oft so kleine Apparate. Da hab ich mir eben auch einen Apparat für das gebaut . . . für die Herstellung des Schnees mit einer Automatik. Mein Vater war begeistert. Ja, na. Er war nicht eifersüchtig . . . Es war nur so, ich hab mit meinem Vater viele Jahre Probleme gehabt. Ich hab immer geglaubt, der spinnt. Plötzlich hat er rumgeschrien, kein Mensch hat gewusst, warum. Er hat gesagt, die Leut stehlen ihm alles, nix findet er, aber nach drei Minuten war er wieder ruhig, und es war vorbei. Ich hab immer gesagt, hörst Papa, warum kommst in die Firma und machst einen Wirbel, warum schreist die Leut an – wir hatten damals um die 60 Mitarbeiter –, das ging ein paar Jahre so, sonst war er ein seelenguter Kerl. Eines Tages ist es rausgekommen, er hatte eine Gehirntumor! Er wurde sofort operiert . . . danach ist er dann, zwei Jahre lang praktisch . . . langsam gestorben . . .“

Herrn Perzys Stimme bebt, seine Augen füllen sich mit Tränen. Er scheint es nicht zu bemerken und fährt fort: „Ich habe dann, damals im Frühjahr 89, als er starb, quasi über Nacht den Betrieb übernommen. Zusammen mit meiner Frau, kann man sagen, die ich damals schon sehr gut kannte. Wir haben dann geheiratet und den Betrieb 16 Jahre lang kontinuierlich um eine Stufe weiter gebracht. Mittlerweile bin ich seit einem Jahr geschieden. Meine Frau hat es vorgezogen, mich und meine Tochter zu verlassen. Sie hat sich damals gedacht, dass sie ihr Glück woanders findet. Ich möchte zu ihrer Entschuldigung aber sagen, dass meine Frau unter einer schweren Schilddrüsenüberfunktion leidet, die ihr Seelenleben und alles durcheinander bringt. Meine Mutter, die hat jetzt auch ein schweres Schicksal vor sich, sie hat seit ca. einem Jahr Alzheimer. Sie ist nach wie vor um 9 Uhr hier im Betrieb, kocht Kaffee, macht irgendwas, da geht aber eben öfter was daneben, oder sie fährt und besucht Kunden, weil sie sich einbildet, sie hat einen Auftrag, und die rufen dann an.

Meine Mama hat ja den Betrieb genauso geführt wies meine Frau gemacht hat, hat die Kunden betreut, die Aufträge hergerichtet, und sie hat meinem Vater gesagt, was er arbeiten soll. Wenn der Stephansdom aus war, hat sie ihm gesagt, ich brauch Stephansdome, oder ich brauch Schweindeln oder dies und jenes. Und das hat der Papa dann gemacht für sie, und sie hat die Teile an die Heimarbeiter weitergegeben. So ein Leben verlernt man natürlich nicht so schnell, trotz der Krankheit.

Also, ich habe momentan ein bissl viel um die Ohren. Ich bin jetzt so weit, dass der Betrieb zu groß ist, um ihn alleine zu führen. Jemand muss da sein, jemand muss auf Messen gehen, deshalb habe ich jetzt einen alten Freund zu meinem Kompagnon gemacht. Er macht auch die Messen, und ich habe die Detailkunden alle an ihn abgegeben. Ich beliefere von hier aus eigentlich nur mehr die Großhändler, die kriegen die Waren von mir hier auf Paletten, und der Rest wird in den 2. Bezirk ins Lager transportiert, dort gehts in Stellagen, von da kriegt er, was er braucht. Dort habe ich zwei Lagerarbeiter, die das Ganze kommissionieren.“

Herr Perzy führt uns durchs Haus. Es wuchert ein altmodisches Chaos, das, so der Hausherr, beherrschbar ist durch einfache Nummerierung und Auflistung all der zahlreichen Kisten und Kartons. Mühelos findet er zwischen den Behältern für Schornsteinfeger, Schweine, Wallfahrtskirchen, Pinguine, Tannenwäldchen, Tänzerinnen, Gummiverschlüsse, schwarze Sockel den mit den Riesenrädern. Alles lagert in Holzregalen an den Wänden und großen Kartons, die im Wege stehen. In einem schmalen Raum wird an langen Tischen von zwei Frauen montags bis donnerstags das Produzierte verklebt und verpackt. Schneekugeln, wohin das Auge auch blickt, bedecken Tische und Regale. Kiwikartons, gefüllt mit kleinen Kugeln, stehen zur Verpackung bereit. Jede Kugel erhält eine eigene, bruchsichere Verpackung, einen raffiniert gefalteten weißen Karton mit Sichtfensterchen, erdacht von Herrn Perzy. Er erklärt, dass die Ware empfindlich ist. Starke Hitze schadet ebenso wie strenge Kälte. Mehrere Paletten, so Herr Perzy, seien ihm vor drei Jahren auf dem Weg nach Los Angeles unterwegs eingefroren und geplatzt, kurz vor Weihnachten. Die Versicherung habe bis heute noch nicht bezahlt.

Wir gehen hinunter in den Hof. Links ist die Formenpresse. Die Produktion läuft in Gestalt einer großen, grünen Maschine, die mit zischelnden Lauten und leichtem Rütteln fingernagelgroße rosa Schweinchen unter sich lässt. Sie türmen sich in einem Sammelbehälter und werden ab und zu umgefüllt. Es riecht süßlich nach Kunststoff. Auf der rechten Seite des Hofes ist die Metallwerkstatt, Herrn Perzys eigentliches Reich, in dem er sich am wohlsten zu fühlen scheint. Hier stellt er die Stahlformen für den Druckguss selber her auf Drehbank, Fräsmaschine, Kopierfräsmaschine und anderem Gerät.

Auch Maschinen vom Großvater und Vater wurden modernisiert, werden gepflegt und benutzt. Wir werden durch wohlgeordnete Formenlager geführt. Schwere, glänzende, zweiteilige Stahlformen, oft für mehrere Teile zugleich. Hergestellt von drei Generationen, eingefräst und eingeritzt mit feinsten Sticheln, die jeweilige Auffassung des Kitsches in seiner Zeit. Nebenan ist die Lackiererei, zur Vorbereitung der Plastikteile, die versilbert und vergoldet werden sollen. Herr Perzy macht das nicht durch Galvanisieren, sondern mittels eines hochmodernen Verdampfungssystems in einem Vakuumkessel. Vorn in der Werkstatt hängen die Meisterbriefe von Vater, Sohn und Großvater an der Wand. Herr Perzy träumt von einer Maschine, die er anschaffen will für die Tochter, damit die sich „nimmermehr so plagen muss wie ich“, sagt er.

Es handelt sich um eine computergesteuerte Laser-Fräsmaschine, mit der man sogar Fotos dreidimensional auf den Bildschirm holen, Modelle vergrößern und verkleinern kann nach Belieben. Damit wird es dann wohl vorbei sein mit dem Charme seiner naiv gemachten Schneekugelfiguren. Wir verlassen den merkwürdigen kleinen Betrieb, der fast überall hin in die Welt seine Schneekugeln liefert, in dem heißer, rosa gefärbter Kunststoffseim mit 1.600 Bar blasenfrei in eine Stahlform gepresst wird, in dem eine Wurfmaschine unablässig erstarrte rosa Schweine gebiert an Allerheiligen. Herr Perzy führt uns um die nächste Straßenecke zu seinem Wohnhaus. Es ähnelt dem Firmensitz ein wenig, hat neue Sprossenfenster und eine altrosa Fassade, Hinterhof mit Baum und Schuppen, und neben der Eingangstür zwei Nischen, in denen einst zwei Pferdeköpfe das Fuhrwerkerhaus kennzeichneten.

Da hinein wünscht sich Herr Perzy zwei beleuchtete Schneekugeln, tüftelt aber noch. Die Wendeltreppe, auch hier aus Stein, ist fensterlos. An den Wänden hängen Fotos von Gattin und Tochter. Beide begrüßen uns oben am Treppenabsatz und ziehen sich gleich darauf zurück. Herr Perzy führt uns ins große Wohnzimmer, macht das Fernsehgerät aus und erklärt gedämpft: „Sie besucht gerade meine Tochter.“

Hund Lucky, klein, weiß, mit braunen Ohren und Fleck ums rechte Auge, ausgesetztes Fundstück aus Rumänien, springt seinem Herrn auf die Knie und wird gestreichelt. Die Wand hinter dem Ledersofa zieren Farbfotos der attraktiven Gattin. Im Regalteil einer großen, über Eck gehenden Schrankwand steht eine Schneekugelkollektion, an der Wand daneben hängt ein hölzerner Morgenstern mit Eisenspitzen. Der schwarze TV- und Musikturm sowie ein zusammengeklapptes Trimmgerät wirken, als wären sie zurückgelassen worden. Herr Perzy zeigt vage in die Runde und sagt: „Wir sind immer noch am Umbaun. Unten ist noch ein Lager, und oben wird der Dachboden ausgebaut . . .“ Er streichelt beharrlich den Hund, der sich geschickt in der Balance hält. „Ich hab ja schon mehrfach durch meine Firma Exkursionen geführt“, sagt Herr Perzy, leider ist es immer zu eng. Auch hochrangige Persönlichkeiten hab ich schon in meinen bescheidenen Räumen empfangen, vor einem Dreivierteljahr kamen 30 Botschafter aus aller Welt, die Generalbotschafter in Österreich, aus China, Indien, Afrika, alle waren da. Das war ein furchtbarer Limousinenauflauf. Wir haben die Herrschaften auf dem Firmenhof begrüßt und herumgeführt. Die waren ganz begeistert, weil sie ja eben solche Schlichtheit noch nicht erlebt hatten. Die Sicherheitsbeamten waren vollkommen zurückhaltend.

Heute würde das ganz anders verlaufen, wenn überhaupt . . . Wer hätte das damals gedacht, dass ein paar Wahnsinnige in ein Hochhaus fliegen??!! Meine Tochter und mich hat das sehr bestürzt, auch deshalb, weil wir eine Woche vor diesem Unglück dort oben gestanden sind und runtergeschaut haben auf New York . . . Es ist eine sehr tragische Geschichte, trotzdem glaube ich nicht, dass das, was die Amerikaner nun machen, wirklich zielführend ist, weil man Gleiches mit Gleichem nicht unbedingt vergelten soll . . .“ Herr Perzy erzählt von der Geschenkartikelmesse in New York und ganz nebenbei von prominenten Schneekugelauftritten in Amerika. Im Film „Citizen Kane“, von Orson Welles, zerschellt eine Perzy-Kugel mit Schlitten am Boden. Expräsident Clinton hatte auf seinem Schreibtisch im Weißen Haus eine mit Esel (und Sockel von Cartier), Geschenk von Freunden zur Präsidentschaft. Nancy Reagan hat einen Großauftrag geordert. Die Lieblingsranch des alzheimerkranken Expräsidenten soll Reagan-Gedenkstätte werden. Die Miniatur in der Schneekugel wird an die Käufer der Anteile verschenkt.

Herr Perzy blickt auf den Hund, streichelt ein Ohr und sagt: „Aber leicht ist das mit so einer Firma nicht, heutzutage, ich muss Ihnen sagen, als mein Großvater das Geschäft geführt hat – und ich hab oft darüber nachgedacht –, da hat er die Entwürfe gemacht und dann zu einem Mann gesagt, so, Sie machen das jetzt so und so. Der hat sich dann an die Maschine gestellt und alles ausgeführt, die Details und Feinarbeiten.

Der Großvater ist auf der Straße gestanden und hat Pfeife geraucht, oder Virginia, das war eben ein . . . Wirtschaftstreibender, während mein Vater dann eigentlich schon eher der war, der für Geld gearbeitet hat. Aber auch er hat seinen Arbeitsmantel angezogen und hat seine Leut gehabt, und die haben ihm alles gemacht. Als ich den Betrieb übernommen habe, hab ich sehr viel selbst gemacht, ausgemalt, die Zwischendecken gemacht und auch sonst . . . Für meinen Vater wäre das undenkbar gewesen. Aber an der Philosophie, da hat sich nicht so viel geändert.

Mein Großvater hat immer gesagt, die Schneekugel soll ein friedliebendes Produkt sein, ein Frieden spendendes. Man soll da drinnen eine kleine, heile Welt sehen . . . so philosophiert hat er eben. Und mein Vater hat sich daran gehalten, und ich halte mich auch dran. Wenn da jemand kommt und sagt, baun sie mir da einen Panzer rein, eine Handgranate, dann sag ich, NEIN. Machen wir nicht. Es kommen keine kriegerischen Szenen, keine Schusswaffen, keine Mordinstrumente und nix rein! Sex, gut . . . die paar Kugeln, die wir mit Penissen gemacht haben, die sind weg, neue Pläne hab ich derzeit nicht. Ich denk mir, ohne Sex würde sich die Menschheit aufhören, aber durch den Krieg, da hört sie sich garantiert auf! Die Kugeln sollen ja Geborgenheit vermitteln für den Moment, aber keinesfalls . . . Na schaun Sie, der Schnee ist weiß, da drin sind sie fröhlich, da drin ist es friedlich, da gibts keine Umweltverschmutzung, nichts . . . Also, am liebsten hab ich irgendwelche Landschaften, also ein Berg, ein Haus, ein paar Bäume.

Wissens, es ist so, die Schneekugel ist ja ein Mikrokosmos, ist in sich geschlossen. Und ich möchte dort drinnen, da ich ja Zugang habe zu diesem Mikrokosmos . . . als Einziger . . . da möchte ich dort Dinge aufheben, konservieren, abbilden . . . die anders sind als die bösen, schlechten Seiten des Lebens . . .“ Der Hund springt zu Boden und rutscht mit dem Hintern über den Teppich, um einen Juckreiz loszuwerden.

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