: Befreite Stadt im freien Fall
Die Nordallianz hat die letzte Bastion der Taliban im Norden Afghanistans eingenommen. Doch ihre Kommandanten fallen schon übereinander her
aus Kundus BERNHARD ODEHNAL
Es hätte auch schief gehen können. Montag früh meldete die Nordallianz, sie habe die Stadt Kundus in Nordafghanistan eingenommen. Doch ein kleiner Zwischenfall an der Brücke über den Alchin-Fluß zeigt, wie labil die Lage in der Stadt noch ist. Ein Lastwagen und ein Jeep mit bewaffneten Taliban rasen aus der Stadt auf die vorderste Linie der Nordallianz zu. Sie halten zwar an, lassen sich aber nicht entwaffnen. Ein nervöser Taliban eröffnet zuerst das Feuer, ein Mudschaheddin schießt zurück. Weitere Schüsse fallen. Dann umringen Soldaten der Nordallianz die Wagen, zwingen die Taliban auszusteigen und schicken sie zurück in die Stadt. Ihre Handfeuerwaffen dürfen sie behalten . . .
Kundus, wenige Stunden nach der Einnahme: Auf den Straßen sitzen erschöpfte Soldaten der Allianz, an ihnen vorbei rasen russische Jeeps, Lastwagen mit Katjuscha-Raketen und japanische Allradwagen mit den Kommandanten. Beim Flughafen findet wieder eine wichtige Versammlung statt. Denn obwohl die Nordallianz auf den Straßen patrouilliert, ist unklar, wer die Stadt eigentlich besetzt hat. Von Osten her rückten die Truppen des Tadschiken Mohammed Daud ein, von Westen jene des Usbeken Raschid Dostum. Und von Norden, über die Alchin-Brücke, kommen die Soldaten des Usbeken Amir Latif Ibrahimi.
Wohin die Taliban verschwunden sind, ist am Montag noch unklar. Viele haben in den letzten Tagen die Seiten gewechselt. Raschid Dostum spricht von „einigen tausenden“. Viele wurde angeblich in Lager am Stadtrand getrieben und sollen in den nächsten Tagen in den Süden des Landes verfrachtet werden. Doch es ist offensichtlich, dass sich bewaffnete Taliban noch in der Stadt aufhalten. Die Gruppe von der Alchin-Brücke kann ungehindert mit ihren Waffen ins Stadtzentrum zurück marschieren. „Wir sind jetzt Verbündete der Nordallianz“, erklärt ein Taliban, „wir wollen nur einen Passierschein, um die Stadt zu verlassen.“
Wo die gefürchteten ausländischen Kämpfer aus Pakistan, Tschetschenien und arabischen Staaten sind, weiß niemand. „Gestern Nacht landeten viele Flugzeuge hier und nahmen sie alle mit“, behauptet Abdul Djafer, ein Tadschike, der ein kleines Geschäft in der Stadt hat. Woher kamen die Flugzeuge? Djafer weiß es nicht, „wahrscheinlich aus Pakistan, wer sonst sollte diese Terroristen wollen?“
Kundus ist die einzige Stadt in Nordafghanistan, deren Bevölkerung mehrheitlich paschtunisch ist. War das ein Grund, dass sich die paschtunischen Taliban hier so lange halten konnten? „Nein, nein, wir wurden von ihnen genau so unterdrückt wie die Usbeken und Tadschiken“, sagt der paschtunische Händler Abdul Sidjan: „Die meisten Taliban kamen nicht von hier, sondern aus dem Süden.“ Sidjan sagt, er sei über den Einmarsch der Nordallianz „überglücklich“. Doch so recht kann oder will er seine Freude offenbar nicht ausdrücken. Am Montag gibt es in Kundus überhaupt nur eine Gruppe, die sich offen freut: die Soldaten der Nordallianz.
Der Schock der vergangenen Tage sitzt tief. Die Taliban, erzählt Sidjan, hätten wahllos von der Straße weg Männer, Frauen und Kinder verhaftet und drohten sie zu erschießen, wenn die Verhandlungen mit der Nordallianz scheitern sollten: „Niemand wagte sich mehr auf die Straße.“ Jetzt kommen die Männer wieder hinaus. Frauen sind jedoch nirgends zu sehen. Ein Usbeke geht mit einem kleinen Weltempfänger durch seine Straße, die Musik lockt die Nachbarn aus ihren Lehmhäusern. Ein paar Händler am Stadtrand haben ihre Ware ausgelegt: japanische Batterien, iranische Kekse, heimische Zwiebel und Radieschen. Ein junger Mann trägt einen Korb mit frischem Brot auf dem Kopf. „Unsere Vorräte reichten gerade noch für zwei Tage“, sagt Abdul Sidjan, „dann wären wir verhungert.“ Die ersten Lastwagen mit Getreidesäcken fahren jedoch aus der Stadt hinaus: die Nordallianz will zuerst die eigenen Leute verpflegen.
Auf dem Hauptplatz von Kundus weht die Fahne der Nordallianz, an den Gebäuden kleben Plakate mit Fotos des ermordeten Generals Ahmed Schah Massud. Auch die Einnahme der Stadt garantiert ihren Bewohnern noch keinen dauerhaften Frieden. Usbeken und Tadschiken können sich nicht einigen, wer die Beute der Taliban bekommen und wer die Stadt regieren soll. Der Usbeke Amir Latif behauptet, er sei vom Präsidenten der Nordallianz, Burhanuddin Rabbani, zum Chef der Provinz Kundus auserwählt worden. Aber auch der Tadschike Mohammed Daud möchte die Stadt haben.
In der Nacht von Sonntag auf Montag kam es zum ersten, schweren Zwischenfall: Latifs Truppen hatten bereits die Burg von Kundus besetzt, als amerikanische Bomber angriffen. Mindestes vier Panzer und 30 Jeeps wurden zerstört. Die verkohlten Reste liegen auf dem Burgberg verstreut. Niemand weiß, wie viele Tote der Angriff der Verbündeten forderte. Kommandant Amir Latif macht dafür seinen Rivalen Daud verantwortlich: Ohne seinen Befehl hätten die Amerikaner niemals angegriffen. Der Kampf um Kundus geht in die nächste Runde.
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