Ende eines deutschen Dramas

Der Angriff der Gegenwart auf die Vergangenheitsbewältigung – die neue Wehrmachtsausstellung zeigt, wie weit die NS-Historisierung vorangeschritten ist

Lange schien die Nazi-Vergangenheit näher zu rücken, je weiter sie entfernt war. Damit ist es vorbei.

Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Hamburger Institutes für Sozialforschung, ist ein scharfsinniger Beobachter. Auf die Frage, ob die bundesdeutsche Vergangenheitsbearbeitung sich derzeit ihrem Ende nähert, antwortete er kürzlich: Nein, das habe man in den 90er-Jahren immer wieder prophezeit, und doch sei diese Vermutung immer wieder, von der Wehrmachtsausstellung bis zur Goldhagen-Debatte, widerlegt worden. Hundert Jahre, also mindestens drei Generationen, würde es wohl dauern, bis die Nazizeit historisiert sei – und für unser Selbstverständnis keine wesentliche Rolle mehr spielt.

In der Tat folgte die bundesrepublikanische Vergangenheitsbearbeitung bislang einem scheinbar paradoxen Gesetz. Je länger die Nazizeit her war, desto vehementer schien sie die Öffentlichkeit zu bewegen. Das Schweigen der 50er wurde seit den späten 70ern durch eine hartnäckige Lust an Kontroversen abgelöst: Das galt vom Historikerstreit über Jenningers Rede bis zur Bubis-Walser-Debatte.

Aber dass die Historisierungsprognosen gestern falsch waren, bedeutet nicht, dass dies für heute und die nähere Zukunft gilt. Es gibt eine Reihe von Indizien, dass sich derzeit etwas verschiebt. Die Bilder marschierender Neonazis, die gegen die zweite Wehrmachtsaustellung demonstrieren, mögen dies verdecken – der Befund bleibt: Die NS-Zeit rückt nicht mehr näher, wir entfernen uns davon: Nichts anderes bedeutet Historisierung. Und ein Indiz dafür ist Reemtsmas renovierte Wehrmachtsausstellung selbst.

In der zweiten Wehrmachtsausstellung ist ein Foto von einem freundlich dreinschauenden älteren Herrn zu sehen. Heinrich Berning leitete ein Krankenhaus in Hamburg. 1983 widmete ihm das Hamburger Ärzteblatt einen warmherzigen Artikel: Bernings Pflichtbewusstsein wurde gelobt, ebenso sein „goldener Humor“ und dass ihm das Wohl der Patienten über alles ging. Vierzig Jahre zuvor, erfahren wir in der Ausstellung, hatte Berning pflichtbewusst medizinische Versuche an 56 russischen Kriegsgefangenen durchgeführt. Zwölf überlebten das Experiment nicht.

Diese Geschichte war kein Einzelfall in der alten Bundesrepublik. Viele kannten solche freundlichen älteren Herren; oft erfuhren wir erst nach ihrem Tod, was sie in der NS-Zeit getan hatten. Das war ein Grund für das scheinbar paradoxe Verhältnis zur NS-Zeit, die näher zu rücken schien, je weiter sie entfernt war. Auf das Schweigen der Eltern antwortete die zweite Generation mit Protest, Misstrauen und einer Art ödipaler Revolte. Dieser Generationskonflikt war der Treibstoff der bundesdeutschen Vergangenheitsverarbeitung: hier das bleierne Schweigen der Älteren, dort die wütende, auch selbstgerechte Anklage der Kinder.

Heute ist die ödipale Revolte vorbei, endgültig. Viele Heinrich Bartings starben in den 90ern, Filbinger ist schon lange eine Figur aus dem Geschichtsbuch. Heute regiert die zweite Generation. Schröder und Fischer mag man allerlei vorwerfen können – dass sie irgendeine Art postfaschistischer Kontinuität verkörpern, gehört nicht dazu.

Genau diesen Wandel dokumentieren die beiden Versionen der Wehrmachtsausstellung. Gewiss, beide beweisen das Gleiche – die Beteiligung der Wehrmacht an den rassistischen Verbrechen im Osten. Doch die Arten, wie sie diese Botschaft inszenieren, machen einen Unterschied ums Ganze aus. Die erste, von Hannes Heer 1995 verantwortete Ausstellung war als Generalanklage gegen die Elterngeneration lesbar. Die Fotos der Massaker sollten deren Lebenslüge bloßlegen und die Legende von der sauberen Wehrmacht, vom unschuldigen deutschen Volk widerlegen. Es war ein – später und doch geglückter – Anschlag auf ein deutsches Familiengeheimnis.

Die erste Ausstellung vertraute auf das Foto, auf Unmittelbarkeit und Schock – die zweite setzt auf die Schrift, auf Einordnung und Distanzierung. Die wenigen Fotos scheinen von den Texten geradezu in Anführungszeichen gesetzt zu werden. Die erste Ausstellung ähnelte einem Plakat, die zweite einem Dossier in der Zeit: dezent, informativ, argumentativ und ziemlich lang.

Die zweite Version widmet einen ganzen Raum der Geschichte der ersten Ausstellung – ein präzises Symbol eines Wandels. Die Vergangenheitsverarbeitung ist selbstreflexiv geworden; sie ist selbst zur (bundesdeutschen) Vergangenheit geworden, die selbst im Museum dokumentiert werden kann.

Die zweite Ausstellung hat damit auch eine neue Botschaft: Die Verbrechen der Wehrmacht werden aus dem nationalen Text, aus Generations- und Identitätskämpfen herausgelöst. Betont wird die bürokratische Struktur der Vernichtung, die Nähe von Moderne und Barbarei. Und die zweite Ausstellung zeigt in dem Kapitel „Handlungsspielräume“ fast pädagogisch, dass es auch in dem terroristischen Apparat auf den Einzelnen ankam. Das ist keine Katharsis, kein Versöhnungskitsch, dafür ist die Ausstellung viel zu reflexiv. Aber die Botschaft, die das Publikum mit nach Hause tragen mag, klingt anders als 1995: Es ist eine allgemeine, universelle Lehre, ein Appell an Zivilcourage und individuelle Gewissensstärke – und meilenweit entfernt von der Anklage gegen die Eltern.

Bis in Details ihrer Ästhetik zielt die zweite Fassung auf eine Entdramatisierung – und insofern widerspricht diese Ausstellung Reemtsmas Prognose über die künftig unentwegte Wiederkehr des Themas NS-Zeit. Denn jene Wiederkehr verdankte sich in den 90er-Jahren stets Dramatisierungen, in denen die Frage verhandelt wurde, wer ein geschichtsbewusster Deutscher ist. Es musste Pole geben – Goldhagen gegen die deutsche Historikerzunft, Bubis gegen Walser, Gauweiler gegen die Wehrmachtsausstellung. Genau diese Polarisierung vermeidet die zweite Ausstellung.

Der Krieg der Generationen ist vorüber – ist damit auch der Kampf um die Erinnerung stillgelegt?

„Seit Auschwitz ist noch kein Tag vergangen“, hat Martin Walser 1979 gesagt. Dieser Satz, seine Unbedingtheit, erscheint uns heute ziemlich fern. Zwischen uns und 1979 liegt Tschernobyl, der Fall der Mauer, das Internet, die Gentechnik, Srebrenica, die Bombardierung Jugoslawiens 1999, der 11. September und die von den Grünen nach Afghanistan entsandte Bundeswehr.

Die bundesdeutsche Vergangenheitsverarbeitung verändert sich also rasant von beiden Seiten her: weil sie als Kampfplatz der Generationen von selbst verschwindet und weil sie an Bedeutung in dem Wandel der deutschen Außenpolitik verliert, den Schröder und Fischer ziemlich bedenkenlos forcieren. Die NS-Vergangenheit wird zur Geschichte, zu Abgelagertem, das aktuelles Handeln nicht mehr bestimmt.

Etwas verschwindet. Die bundesrepublikanische Zivilität verdankte sich ja auch dem Kampf der Generationen, der jenes eigensinnige, unberechenbare Interesse an der NS-Zeit hervorbrachte, auf das Reemtsma vertraut. Damit scheint es vorbei zu sein. Und das ist keine Befreiung, das ist ein Verlust – eines Maßstabs, eines Orientierungspunkts. Eine Republik, in der die NS-Zeit nur noch als universelle Metapher verstanden wird, ist ärmer. STEFAN REINECKE