Aufsteiger und Absteiger

Deutschland schneidet nicht nur schlecht beim OECD-Test Pisa ab – es hat vor allem das sozial selektivste Schulsystem

von CHRISTIAN FÜLLER

Der Mann führt Thesen zum Thema Schule im Munde, die man gemeinhin als links bezeichnet. Andreas Schleicher will nicht akzeptieren, „dass die im Land geborenen Kinder von Zuwanderern in der Schule deutlich schlechter abschneiden als die Einheimischen“. Er mosert auch über schlechte Kindergärten. Und über zu frühe Schülerauslese in Deutschland. So etwas hatte man zuletzt bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) gehört. Und von den 68ern. Heute ist das ziemlich out.

Der Mann, der am Montag abend den Schulschreck gab, ist wahrlich kein Linker. Er ist der Koordinator der Bildungsstudien bei der Pariser Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Und er hatte mit dem bislang weltweit größten Schultest eine Botschaft mit nach Berlin gebracht, die alle zuvor durchgesickerten Details übertrifft: Deutschland hat nicht nur eines der schlechtesten, es hat das selektivste Schulsystem der 32 getestenen Länder.

Viel zu wenig Geld

Plötzlich ist Chancengleichheit wieder Thema – von überraschender Seite: „Ich bin nicht von einer wohltätigen Organisation“, klärt Schleicher seine Zuhörer auf. „Uns von der OECD geht es ausschließlich darum, das Humankapital optimal auszunutzen. Und das geschieht in Deutschland nicht.“

Der smarte OECD-Statistiker mag seine „linken Thesen“ noch so überzeugend ökonomisch darlegen, seine Rezepte mögen noch so einleuchtend sein – sie werden in Deutschland schwerlich Wirklichkeit. Weil sie auf wenig Geld und viel Ideologie treffen. Die OECD beschreibt die frühkindliche Bildung als einen wichtigen Problembereich hierzulande. Die Kindergärten seien schlecht und vor allem teuer. Die danach folgende vierjährige Grundschule betrachten die Pariser Gutachter als Quickie, als ein unzuverlässiges Obendrein. Kurz: Das Land ist ausgerechnet dann schlecht, wenn die Grundlagen des Lernens gelegt werden, im Alter von 3 bis 15 Jahren.

Eigentlich wäre dem Problem relativ leicht abzuhelfen. Das Land ist ja schon auf dem Weg. Es gibt praktisch kein Bundesland, das nicht die so genannte verlässliche Grundschule einführen wollte, die Kindern und Eltern wenigstens bis zum frühen Nachmittag die Sicherheit von Betreuung gibt. Sämtliche Bildungsgutachter der politischen Stiftungen etwa schlagen vor, den Kindergarten von einer Verwahranstalt zu einer echten Bildungseinrichtung zu verwandeln. Doch selbst gute Beispiele dafür, etwa das Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus, ein Bildungs- und Neugier-Kindergarten nach dem Muster Friedrich Fröbels, leiden unter dem Geldmangel der öffentlichen Hand. Dem Berliner Familienzentrum geht es nicht anders wie andernorts dem Recht auf einen Kindergartenplatz oder der verlässlichen Grundschule: Beschlossen ist es schnell – aber bei der Umsetzung fehlt entweder das Geld. Oder es klagen, wie gerade in Sachsen-Anhalt, konservative Eltern gegen die Verletzung ihres Erziehungsrechts. Wie auch anders? Die CDU nennt das Erziehungsrecht der Eltern als oberstes Prinzip – in ihrem gerade erneuerten Bildungsprogramm. Moderne Schulpolitik, gerade in Vorschule und Primarbereich, stößt sich hierzulande immer noch an konservativer Familienpolitik.

Schlimmer noch steht es bei der Frage der Schulformen. Die OECD hütet sich vor Empfehlungen. Aber aus der Pisa-Studie lässt sich unschwer herauslesen, dass die drei sorgsam voneinander getrennten Haupt-, Real- und Oberschulen für die Selektionswirkung in Deutschland verantwortlich sind. Hier entstehen offenbar sozial homogene Milieus von Aufstiegern und Absteigern.

Eltern sind resigniert

Bloß wer wollte hierzulande das immer noch rauchende Schlachtfeld von „Gesamtschule oder Gymnasium“ erneut betreten? Die Kultusminister haben sich die Debatte sofort verbeten. (siehe unten) Die Eltern, auch jene, die sich links geben, wollen diesen Streit nicht mehr beginnen. Spätestens wenn der Filius in die 4. Klasse kommt, wird Richtung Gymnasium geschoben.

Der Bielefelder Schulforscher Klaus-Jürgen Tillman meint, aus Pisa lasse sich vor allem ein Schluss ziehen: dass das dreigliedrige Schulsystem nicht funktioniert. Trotzdem warnt er davor, das Thema Gesamtschule erneut anzusprechen. „In den Köpfen nicht nur der Lehrer, auch der Schüler ist das dreigliedrige Schulsystem fest verankert: Es gibt Hauptschüler, Realschüler und Gymnasiasten als quasi natürliche Menschengruppen.“ Dagegen könne man nicht an.

Außer man kommt von der OECD und heißt Andreas Schleicher. Oder man ist eine überzeugte Linke wie die Vorsitzende der GEW, Eva-Maria Stange. „Natürlich müssen wir die Schulformdebatte neu aufollen“, sagt sie. „Das ist ein Schlachtfeld, für das jetzt Daten vorliegen.“

Pisa-Ergebnisse SEITE 14