Das Knacken sowjetischer Tabus

In der Doku-Serie „Roter Stern über Deutschland“ (heute, 13., 20.12., 21.45 Uhr, ARD) lässt der Regisseur nicht nur Soldaten zu Wort kommen, sondern zeigt auch bisher unveröffentlichte Bilder aus dem Militäralltag der sowjetischen Besatzungsmacht

von BARBARA KERNECK

Eine Sternstunde muss es für den Fernsehregisseur Christian Klemke gewesen sein, als er gleich vier hochrangige russische Generäle vor seine Kamera bekam, drei von ihnen waren nacheinander Oberkommandierender der einst in der DDR stationierten Roten-Armee-Einheiten gewesen, der Vierte, Anatoli Gribkow, Generalstabschef der Truppen des Warschauer Paktes. Das Witzigste an der Begegnung im Forsthaus Johannesmühle, dem ehemaligen Jagdressort, sei gewesen, dass sich alle vier so aufgeführt hätten, als ob sie dort noch immer als Chefs walteten. Weiter erinnert sich Klemke: „Jeder von den vieren hat im letzten Moment vor dem Interview noch einmal versucht, unseren Einsatz in die Höhe zu treiben, hat noch mehr Geld gefordert und noch mehr Versprechungen, gewisse Dinge auf keinen Fall zu fragen.“

In der vom ORB produzierten dreiteiligen Fersehserie haben Klemke und sein Koautor, Jan Lorenzen, dennoch viele Tabus geknackt. Bei der Geschichte der fast fünfzig Jahre währenden Anwesenheit der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland (GSSD) geht es ja um eine Armee, deren Angehörige dort 1945 als Befreier empfangen, aber auch als Verbrecher gemieden wurden. Und ihre zeitweise über eine halbe Million Soldaten sahen später von diesem Land – bzw. dessen östlicher Hälfte – kaum mehr als die Schießplätze. In Interviews mit zahlreichen Sowjetsoldaten, die einst in der DDR dienten, entsteht hier zum ersten Male so etwas wie eine Innensicht dieser von der Bevölkerung abgeschnittenen und der Willkür ihrer Vorgesetzten ausgelieferten Truppen. Ergänzt wird sie durch das Bild ihrer Räumlichkeiten: der Bunkeranlage in Wünsdorf, dem schon seit der Kaiserzeit genutzten Militärstandort bei Berlin zum Beispiel, oder des eisigen Karzers, in den einmal ein Soldat für drei Tage geworfen wurde, weil er gegen seinen Vorgesetzten im Spiel gewonnen hatte.

Am beeindruckendsten ist aber das bisher unveröffentlichte sowjetische Filmmaterial. Diese Bilder zeigen viele Interna aus dem oft grauen, ärmlichen Militäralltag, über die nicht laut geredet wurde, aber zum Beispiel auch die wütenden BürgerInnen Prags beim Einmarsch 1968 aus der wenig beneidenswerten Perspektive eines russischen Panzerfahrers.

Dass ausgerechnet Truppen der GSSD in Prag einmarschierten, lag an ihrer Funktion als Speerspitze Moskaus im Kalten Krieg. Sie verfügten über die modernsten Waffen der UdSSR, vor allem über stets gefechtsbereite Nuklearraketen. Kein Wunder – und auch hier wird die Doku zum Thriller – dass die Armeeführung zunehmend ihre eigene Politik verfolgte. Zuletzt träumte sie offenbar davon, UdSSR-Präsident Michail Gorbatschow während eines DDR-Besuches zu beseitigen, wozu es dann nicht mehr gekommen ist.

In ihren Augen ist Gorbatschow bis heute der Verräter, der sie zu geschlagenen Siegern machte: „Dem würde ich heute in die Fresse spucken“, sagt Oberarmeegeneral Gribkow während des anfangs erwähnten Interviews. Die einfachen Sowjetsoldaten hatten nichts gegen die deutsche Vereinigung und verließen die beim Abzug 1994 längst „ehemalige“ DDR ungern: Für viele von ihnen ist ihr Militärdienst in Deutschland angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage in Russland und den anderen Folgerepubliken im Rückblick sogar eine schöne Zeit. Eine Zeit, an die in Deutschland nur noch wenige, verfallene Stützpunkte und gesperrte Wälder erinnern: „Am meisten hat mich bei meinen Recherchen verblüfft“, sagt Regisseur Klemke: „wie schnell Geschichte in Vergessenheit gerät“.