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„Ich bin filmbares Material“

Agnès Varda, die „Großmutter der Nouvelle Vague“, schnappt sich eine kleine Digikamera und zeigt den Enkeln, wo es langgeht: Ihr Film „Die Sammler und die Sammlerin“ ist eine heitere Reise in die Abgründe der Wegwerfgesellschaft

Interview KATJA NICODEMUS

taz: Ihr Film handelt vom Sammeln in der Moderne. „Die Sammler und die Sammlerin“ heißt im Original „Les glaneurs et la glaneuse“. Das Wort „glaner“ hat im Französischen allerdings einen altertümlichen Klang . . .

Agnès Varda: Man verwendet dieses Verb heute, wenn Journalisten Informationen sammeln, wenn man Ideen, Pilze oder von mir aus Weinbergschnecken sammelt. In seiner ursprünglichen Bedeutung meint „glaner“ aber das Aufsammeln von dem, was nach der Ernte, wenn der Bauer seine Arbeit beendet hat, auf dem Feld liegen bleibt. Oder wenn man ausrangierte Möbel auf die Straße stellt. Der Vorgang bezieht sich also auf ein Objekt, das von seinem Besitzer verlassen wurde. Mir hat die Vorstellung gefallen, dass es Menschen gibt, die von diesen Resten leben und den Dingen auf diese Weise ein zweites Leben verleihen.

Ihr Film gelangt aber sehr schnell über eine reine Phänomenologie der Resteverwertung hinaus.

Am Anfang stand tatsächlich ganz schlicht die Frage: Wer sammelt heute eigentlich Reste? Wer sammelt sie in der Stadt und wer auf dem Land? Damit gelangt man natürlich schnell zu verschiedenen Arten der Armut. Es geht um Menschen an der Peripherie, die aus wirklicher Not sammeln, um andere, die aus Geiz oder Vernunft sammeln, wieder andere amüsieren sich dabei oder fühlen sich als Künstler. All diese Aspekte haben sich dann weiter verlinkt. So kommt man sehr schnell zu weiteren sozioökonomischen Fragestellungen. Es geht um die Folgen einer modernen Landwirtschaft, um Fragen der Verteilung, der Globalisierung. Es ist also ein sehr diskretes, bescheidenes, letztlich marginales Thema, aus dem sich sehr viele Gedanken entwickeln lassen.

Es gibt natürlich auch eine ganz nahe liegende Analogie, die ja auch im Titel anklingt: das Filmen als Bildersammeln.

Diese Analogie darf man natürlich nicht todernst nehmen. Aber das Restesammeln hat schon immer mit meiner Haltung als Filmemacherin zu tun. Ich habe mich schon immer für das interessiert, was die anderen liegen ließen. Obdachlose sind im Laufe der Globalisierungsdebatten sehr in Mode gekommen, aber als ich 1984 „Vogelfrei“ mit Sandrine Bonnaire gedreht habe, hat sich noch niemand für Penner und Randfiguren interessiert. Mit den Sammlern ist es ähnlich, es sind Außenseiter, die von der Gesellschaft an den Rand gedrängt und letztlich weggeworfen wurden. Die Analogie liegt also weniger im Prozess des Filmens als in der Haltung zu diesen Leuten.

Interessanterweise wirken die Menschen, mit denen Sie sprechen, aber keineswegs wie der Ausschuss der Gesellschaft.

In Frankreich wurde ich immer wieder gefragt, wie ich an diese Leute herankomme. Ich glaube, ich mache ihnen einfach keine Angst. Ich bin sehr klein, ich bin nicht jung, nicht gut angezogen, deshalb sprechen sie mit mir. Sie haben Vertrauen, erzählen, was sie denken. Wirklich bemerkenswert ist, dass sie sich hervorragend artikulieren und sehr klug sind. Darauf bin ich stolz: dass diese Außenseiter bei mir nicht diese Klischeesprache haben, die häufig in Filmen auftaucht: „Fick die Gesellschaft, alles Scheiße“ und so weiter. Im Gegenteil, sie äußern sich in gutem Französisch mit unglaublicher Hellsichtigkeit über die französische Gesellschaft.

Ihre persönliche Perspektive ist zwar der rote Faden des Films, aber Sie versuchen nie, das Gesagte einzuordnen.

Ich hasse diese Fernsehmanie: Man sagt etwas und dann sucht man sich jemanden, der diesen Gedanken illustriert. Bei mir sind die Menschen selbst das Thema. Sie konstituieren es, entwickeln es weiter. Ich bin vielleicht eher die kleine Cineastin, die etwas leichtfertiger als sie ist, die gerne filmt, sich dabei amüsiert und davon ausgeht, dass man ein ernstes Sujet auch mit einer gewissen Heiterkeit behandeln kann.

Aber Sie selbst konstituieren das Thema auf eine sehr persönliche Weise mit. Man erfährt sehr viel über Sie, Ihr Leben, Ihr Verhältnis zum Altwerden . . .

Ja, aber das hängt weniger mit Narzissmus zusammen als mit einem Gefühl der Balance. Diese Leute geben so viel über ihr Leben preis. Übrigens bin ich selbst durchaus filmbares Material.

Tatsächlich filmen Sie Ihre Hände wie die eines Fremden.

Das liegt natürlich auch an diesen wunderbaren kleinen Digikameras, mit denen man ganz nah rangehen kann. Wenn ich die Falten und Runzeln meiner Hände filme, geht es mir aber nicht darum zu sagen, wie schrecklich das Altern ist: „Ach, diese armen Händchen“ – das ist absolut nicht mein Diskurs, ich finde so was völlig uninteressant. Aber die eine Hand mit der anderen zu filmen ist ein cinematografischer Akt. Es ist nämlich ziemlich toll, zwei Hände zu haben, die das können. Es ist fast ein Statement. Ich bin gleichzeitig Subjekt und Objekt. Das gibt mir die Überlegenheit dessen, der die Kamera hält, und die untergeordnete Position dessen, der gefilmt wird. Ich mag diesen Doppelstatus. Mit Koketterie hat das nichts zu tun. Kokett bin ich, weil ich mir die Haare färbe. Für diesen Film habe ich sie mir extra wachsen lassen, um zumindest einen grauen Scheitel zu haben. (lacht)

Die Materialität und Vergänglichkeit des Körpers haben Sie schon einmal gefilmt. In „Jacquot de Nantes“, als Sie Ihren inzwischen verstorbenen Ehemann Jacques Demy aufgenommen haben.

Lassen Sie mich ein bisschen ausholen: In „Die Sammler und die Sammlerin“ entstand die Aufnahme meiner Hände in dem Moment, als ich von einer Reise nach Japan zurückkehrte. Ich gehe die Post durch, stoße auf eine Postkarte mit einem Selbstporträt von Rembrandt, filme sie, und die Kamera gleitet ganz automatisch zur Hand. Wenn man eine Karte hält, entsteht zwischen Daumen und Zeigefinger ganz natürlich eine kleine Falte, auch bei einer jungen Person übrigens. (lacht) Aber als ich durchs Objektiv gesehen habe, kam mir das wirklich völlig fremd vor, wie die Haut eines Tieres. Es war nicht ich, es war einfach Material. Diese existenzielle Entfremdung und Verschiebung kam mir sehr interessant vor. Ohne jede Sentimentalität. Und da ich überdies ein Selbstporträt in der Hand hielt, dachte ich plötzlich: Alles ist Selbstporträt. Das und das und das und das. (sie zupft an ihren Ohren und ihren Fingern)

Eigentlich geht es in Ihrem Film auch nicht um Ihr eigenes, persönliches Altern, sondern um ein Bewusstsein für Vergänglichkeit. Überhaupt haben Sie sich in Ihrem Kino immer wieder mit der Zeit beschäftigt.

Und mit Uhren, in „Cléo de 5 à 7“ zum Beispiel. In meinem neuen Film gibt es diese Uhr ohne Zeiger, die ich ganz zufällig auf der Straße gefunden habe. Ich habe sie, eigentlich ohne mir dabei groß was zu denken, mit nach Hause genommen und aufs Sofa gestellt. Nach ein paar Tagen kam mir das seltsam vor, denn ohne Zeiger vergeht nun mal keine Zeit. So einfach ist es nun aber auch nicht, denn wir vergehen ja. So entstand die Szene mit der Uhr. Mein Kino funktioniert meistens so einfach, so instinktiv, geradezu primitiv. Es gibt eine Zirkulation, einen Austausch von Ideen und kleinen Entdeckungen. Was ich aufgenommen habe, wird geschnitten, und so entsteht der Film. Ich webe etwas, und dieses Gewebe nennt man dann Kino.

„Die Sammler und die Sammlerin“ lief im vergangenen Jahr bei den Filmfestspielen von Cannes. Damals organisierte das Festival jede Menge Symposien und Konferenzen über den bedenklichen Einfluss der digitalen Technik auf das Kino. Als dann Ihr Film lief, wirkten diese ganzen Diskurse plötzlich ein wenig albern. Sie haben einfach die Digikamera genommen und fürs Kino genutzt, jenseits jeder Theoretisierung.

Ich habe die kleine Kamera vor allem dann benutzt, wenn ich mit Sozialfällen oder anderen schüchternen Menschen zu tun hatte, an die ich anders nicht herangekommen wäre. Und natürlich ist diese schnelle, preiswerte Technik sehr wichtig für das, was ich Cinécriture nenne, den Stil des Films, seine kinematografische Handschrift. In „Die Sammler und die Sammlerin“ entsteht sie einerseits aus der Haltung zu den befragten Leuten und der Art, ihnen Fragen zu stellen, und andererseits aus dem Schnitt. Es ist aber vor allem die kleine Kamera, die mir die Gelegenheit gibt, schnell auf jemanden zu reagieren, einfach zu filmen, weil jemand etwas sagen will und nicht, weil das Licht endlich stimmt.

Ihr Film wurde in Frankreich immer wieder in die Nähe der Globalisierungskritiker gerückt, fühlen Sie sich dieser Bewegung irgendwie verbunden?

Engagement ist schon ein zentraler Begriff in meinem Kino. Aber ich habe mich selbst immer unabhängig von der Politik und irgendwelchen Bewegungen und Parteien gesehen. Ich bin in erster Linie Künstlerin. Das heißt, ich trete der Welt mit einer Mischung aus Ernst und Heiterkeit entgegen. Einerseits hat man Bleifüße, weil die Welt so schrecklich ist, und andererseits fliegt man wie ein kleiner sorgloser Vogel von Ast zu Ast.

Vielleicht erinnern Sie sich an den Mann, der gegen Ende meines Films auf dem Boden isst. Erst nach zwei Monaten habe ich entdeckt, dass er afrikanischen Einwanderern Französischunterricht gibt, und zwar umsonst. Es ist der Film, der das herausgefunden hat. Diese Art der Entdeckung, des Teilens von Beobachtungen ist für mich die Aufgabe des Künstlers: Ein grauhaariger Mann, der mit einer alten Tasche auf der Straße herumstreicht und Salatblätter aufisst, die er nach dem Markt auf dem Boden findet, ist derselbe Mensch, der unterrichtet. Der entspannt, adrett und ausgelassen mit seinen Schülern lacht.

Sehen Sie, dieser Mann nimmt auch an öffentlichen Diskussionen und Podien teil. Er ist sehr ernst, spricht vom Hunger in der Welt und weiß alle Zahlen über Armut zwischen Indien und Südamerika. Man kann sich diesem Thema also nach streng geopolitischen Aspekten nähern und sagen, dass Frankreich ein Land des Überflusses ist. Aber ich fühle mich als Künstlerin nicht so ernst. Ich freue mich auch, wenn mir der Film Gelegenheit gibt, mit meinem kleinen Auto über die französischen Autobahnen zu fahren, Laster einzuholen und irgendwelche Hammel zu filmen. Das Vergnügen zu filmen durchdringt gewissermaßen die Schwere des Sujets. Ich muss nicht von einer Kanzel herab von den sozialen Problemen der Welt erzählen, sondern von der Malerei, von der Schönheit der Kartoffeln oder von meinen grauen Haaren.

Oder von der Überschwemmung in Ihrem Wohnzimmer.

(lacht) Die Decke sieht immer noch aus wie ein abstraktes Gemälde. Man könnte sie glatt ins Museum hängen. Ich habe sie fast ein Jahr lang so gelassen. Die Stelle wurde größer und bildete immer neue faszinierende kleine Flecken. Dieser spanische Künstler, Tapies, macht eigentlich auch nichts anderes.

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