piwik no script img

Verstärkung aus dem Jenseits

Eigentlich ist der neue Flughafen für Paris längst beschlossen. Da können den Gegnern in den betroffenen Dörfern nur noch ihre Soldatengräber helfen

aus der Picardie DOROTHEA HAHN

„Was hier am schönsten ist?“ Georges Andréjak überlegt lange. Ihm fällt nichts ein. Er ist Besitzer der einzigen Bar von Vermandovillers einem Dorf nur einige Kilometer nördlich des Städtchens Chaulnes. Wo er lebt, gibt es keine Berge, keinen Bach zum Angeln und schon gar nichts Altes: „Das ist ja alles immer wieder zerstört worden“. Bloß Felder bis zum Horizont. Kartoffeln, Rüben, Weizen. Dazwischen Soldatengräber so weit das Auge reicht. Auf dem Asphalt der Landstraßen kleben Klumpen feuchter, schwerer Erde, die von Traktorreifen abgeplatzt sind. Über den geduckten roten Backsteinhäusern mit weiß gestrichenen Fenstern ragen Kirchtürme wie Nadeln in den Himmel. Unten am Boden, in der Mitte jeden Dorfes, marschieren Krieger aus Bronze oder Stein. Sie tragen die Inschrift: „Gestorben für Frankreich“. Zu ihren Stiefeln liegen in Zellophan gewickelte Blumensträuße. Das ganze Jahr. Immer.

In der Picardie verläuft das Leben zwischen Landwirtschaft und Gedenken. Niemand stört dabei. Auch nicht die Fremden, die im Hochgeschwindigkeitszug TGV und auf der Autobahn A1 durch die flache, fruchtbare Landschaft von Brüssel nach Paris und zurück rasen. Bei geöffnetem Autofenster können die Reisenden manchmal die Abluft einer Kartoffelchipfabrik riechen. Auf einer über der Leitplanke befestigten Tafel können sie bei langsamer Fahrt lesen, dass an diesem Ort die „Schlacht an der Somme-Bucht“ geschlagen wurde. Bei dem Gemetzel starben 1916 1,3 Millionen junge Männer aus Deutschland, Frankreich und Großbritannien.

Mitte November holte eine „nationale Notwendigkeit“ das Leben in der Picardie ein. Die Regierung in Paris beschloss, der Region zu einer „dynamischen europäischen Entwicklung“ zu verhelfen. Das hieß: den dritten internationalen Flughafen der französischen Hauptstadt zu bauen. Vier Start- und Landebahnen, mit bis zu fünf Kilometer Länge sind geplant. Doch für sie sollen mehrere Dörfer weichen, darunter auch Vermandovillers. Nach dem Beschluss tauchten längs der Straßen der Picardie über Nacht große Spruchbänder auf. „Neue Schlacht an der Somme“ steht darauf. Und: „Lärm, Gift, Vertreibung – wir sind glücklich hier.“ Wenig später waren die Namen Dörfer, die verschwinden sollen, auf den Ortsschildern überpinselt. Den Weg nach Vermandovillers, Ablaincourt-Pressoir, Lihons und Vauvillers finden seither nur Eingeweihte.

Georges Andréjaks Bar in Vermandovillers befindet sich genau an der Stelle, auf dem die Pariser Experten auf ihrem Plan „Piste 2“ eingetragen haben. Ihnen zum Trotz hat Andréjak „Nein zum dritten Flughafen“ an die Fenster seiner Bar geschrieben. Ein gelber Proteststicker klebt auch an seinem Kühlschrank. Natürlich wird Andréjak am Sonntag auch zu dem Referendum gehen, bei dem die Bürgermeister von 46 Gemeinden die Frage stellen: „Sind Sie für die Ansiedlung des dritten Flughafens?“ „Non“,wird Andréjak abstimmen. Und so werden es auch fast alle Nachbarn tun. Auch wenn er bezweifelt, dass es hilft. Denn die in Paris haben in der Picardie einen schlechten Ruf. „Die Regierung“, heißt es, „tut doch eh was ihr und ihren Kumpels nutzt.“

Das Referendum am Sonntag ist illegal. Zwar sind nach französischem Gesetz lokale Volksbefragungen möglich. Aber ihre Vorbereitung dauert monatelang und ihre Fragestellung muss lokal sein. Bei diesem Referendum aber geht es um etwas, das die Regierung in Paris zum „nationalen Interesse“ erklärt hat.

Trotz Tricolore abgewimmelt

Die 46 Bürgermeister wollten nicht warten und wollten auch keine Zeit mit bürokratischen Dingen verlieren. Sie wollten schnell und effizient gegen den Flughafen tätig werden. Direkt nach der Regierungsentscheidung hatten sie ihre Schärpen in den Farben der Tricolore übergezogen und waren im Bus nach Paris gefahren. Statt von Mitarbeitern des Premierministers wurden die Würdenträger von Polizisten empfangen und abgewimmelt. Seitdem sind sie in ihrer Region geblieben. Sie haben demonstriert, für übermorgen zu dem wilden Referendum aufgerufen und wollen anschließend über weitere Protestformen nachdenken. Die „Vereinigung gegen den Flughafen“, schlägt bereits Radikales vor. Sie will die Autobahn besetzen, die TGV-Strecke blockieren und andere Dinge tun, die ihr Präsident, der Sportlehrer Jean-Paul Dogny, vorsichtshalber geheim halten möchte.

Die meisten Lokalpolitiker der Region sind Konservative. Einer der wenigen Sozialdemokraten, Thierry Lineatte, Bürgermeister in Chaulnes, überlegt bereits, sein Parteibuch zurückzuschicken. Er ist nicht allein. „Die PS redet viel von der Basis, von Transparenz , von Dezentralisierung und von Demokratie“, sagt Lineatte bitter über seine Partei, die mit Premier Lionel Jospin seit viereinhalb Jahren die Regierungsgeschäfte in Paris führt. „Aber uns hat sie nicht einmal über ihre Flughafenentscheidung informiert. Geschweige denn, hat sie um unsere Meinung gebeten.“

Das provisorische Hauptquartier der Bewegung gegen den Flughafen befindet sich in Vermandovillers auf der Höhe von „Piste 4“. Dort führt Raphael Poupard, nach Selbsteinschätzung ein „konservativer Bauernvertreter“, die Geschäfte. Rechtzeitig zu seiner Wahl zum Bürgermeister im Frühling dieses Jahres ging der frühere reisende Handelsvertreter in Rente. Jetzt verbringt er seine Zeit in dem kleinen Backsteinbau, der heute nur noch als Rathaus dient und früher auch Dorfschule war. Poupards einziges Werkzeug ist ein Telefon-Faxgerät. Einen Computer hat die Gemeinde nicht. Er gibt Interviews, malt Transparente, organisiert Demonstrationen, sucht nach Unterstützern in aller Welt und empfängt täglich ein halbes Dutzend Briefe aus ganz Frankeich. „Weitermachen“, ermuntern ihn die Autoren: „Der Flughafen ist wirtschaftlich unnötig und politisch eine Schande.“ Sie analysieren, daß der dritte Flughafen ein „politisches Manöver“ sei, mit dem die rot-rosa-grüne Regierung die Wählerstimmen der lärm- und dreckgeprüften Anwohner der Vorstädte Roissy und Orly gewinnen will: „Dem stehen nur 18.000 Wähler in der betroffenen picardischen Region gegenüber“. Und immer wieder beschwören die Briefeschreiber: „Wir müssen das Andenken unserer Toten ehren. Soldatengräber schleifen, ist Verrat an unseren Märtyrern.“

Poupard ist Bürgermeister über eine Gemeinde von 116 Lebenden. Am Ortsrand sind die Gebeine von 22.665 Toten bestattet. Sie liegen unter geometrisch aufgestellten Kreuzen. Einige sind mit Namen, Dienstgraden und Todesdaten beschriftet. Andere nur mit einem Wort: „unbekannt“. Es sind im Ersten Weltkrieg in der Somme-Schlacht gefallene deutsche Soldaten.

Weil die Menschen in der Picardie wissen, dass sie mit dem dünn besiedelten, flachen Land in Paris nicht besonders gut gegen das Flughafenprojekt argumentieren können, richten sie ihre Hoffnungen auf die toten Soldaten. Ganz egal, ob auf ihnen die deutschen Feinde von damals, die britischen Alliierten oder Landsleute begraben liegen, sollen die Soldatenfriedhöfe helfen, die bedrohten Dörfer retten. Bislang hat nur die Londoner Regierung eine Klage gegen die Zerstörung ihrer Kriegsgräber angemeldet.

Die Picardie hat jahrhundertelang im Rhythmus von Kriegen gelebt. Allein in den vergangenen 130 Jahren wurde das Gebiet drei Mal von deutschen Armeen überrannt und von französischen Armeen und ihren Alliierten zurückerobert. Monatelang standen sich jeweils in der Picardie feindliche Soldaten in Rufweite gegenüber. Nachdem die einen die anderen umgebracht hatten, konnte die Fahne ihres Landes um ein paar Meter verschoben werden. Bis zur nächsten patriotischen Grenzverschiebung.

Die Picards benennen ihre Geschichte nach den Daten von Schlachten. Sie reden von „1870/71“, von „14/18“ und von „39/40“. Jedes Mal mussten die Zivilisten fliehen. Bei ihrer Rückkehr fanden sie Ruinen an der Stelle ihrer Häuser vor und waren die Grabfelder an ihren Ortsrändern noch größer geworden. Die Rückkehrer richteten sich in Notunterkünften ein, gruben Leichenteile und Waffen aus ihren Äckern und fingen ein neues Leben am Ort des alten an.

Ein kleines Idyll

Von Vermandovillers war am Ende des ersten Weltkrieges nichts übrig. „Meine Großmutter erkannte ihr Haus an den Resten des Waschtrogs wieder“, erzählt Ghislain Guilleaume. Nach seiner Verrentung haben der frühere Gendarme und seine Frau in dem vielfach neu aufgebauten Haus ihrer Familie ein kleines Idyll eingerichtet. Im Hof stehen eine Ziege und eine Gans und im Wohnzimmer betreibt Guilleaume militärhistorische Studien über die Region. Er war einer jener, der die Anzeichen für das Projekt eines Flughafens in der Gegend früh ernst genommen haben. Seinem Sohn riet er schon Mitte der 90er-Jahre, kein Haus in dem Dorf zu bauen: „wegen des Flughafens“. Als die Regierung dann ihre Entscheidung bekannt gab, hat Frau Guilleaume wie viele im Dorf geweint. Ihr Mann hat das „Souvenir français“ mobilisiert, eine Organisation, die sich um die französischen Opfer aller Kriege kümmert – von „14/18“ über „39/40“ und „Indochina“ bis nach „Algerien“.

Georges Andréjaks Bar wurde in den Weltkriegen bereits zweimal zerstört. Und zweimal wiederaufgebaut. Er kann Fremden nicht beantworten, was in seinem Dorf „schön“ ist. Aber er weiß, warum er bleiben will. „Ich bin hier zu Hause“, sagt er, „es ist mein Zuhause“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen