: „Wo steht denn das Kind?“
Interview EDITH KRESTA und CHRISTIAN FÜLLER
taz: Frau Schavan, sind Sie über die Ergebnisse der Pisa-Studie entsetzt?
Annette Schavan: Mit den Ergebnissen der deutschen Schüler kann niemand zufrieden sein. Sie waren nach der internationalen Mathematikstudie von 1997 aber zu erwarten. Deswegen hatten die Kultusminister ja beschlossen, regelmäßig an solchen Vergleichen teilzunehmen. Nun sind Fakten auf dem Tisch – und eine neue Grundlage für Bildungspolitik.
Ist Pisa nicht auch die Quittung für die konservative deutsche Familienpolitik?
Das ist überhaupt nicht so.
Die Studie gibt aber deutliche Hinweise darauf, dass in deutschen Kindergärten und Grundschulen eine bessere Bildung stattfinden müsste – den ganzen Tag über. Das ist schwer möglich, wenn die CDU dem Erziehungsrecht der Eltern absoluten Vorrang gibt.
Mit dem Wort Ganztagsschule liegt die Lösung nicht auf dem Tisch. Das haben die Pisa-Wissenschaftler sehr deutlich gesagt. Die Studie ist meines Erachtens der Beweis, dass wir viel über Themen gesprochen haben, die nicht relevant sind: Über Klassengrößen, über Schulformen, über Geld. Das ist alles bedeutsam, aber nicht der Schlüssel.
Was ist denn der Schlüssel?
Unterricht muss für alle Schüler attraktiver werden. Sie brauchen mehr Lernanreize, um nicht nur viel zu wissen, sondern mehr zu verstehen. Der Schlüssel liegt in der Lernkultur.
Sie wollen den Unterricht spannender machen?
Ja, denn Wissen alleine reicht nicht. Kinder sollen ihre Talente entdecken und ihre Neugier befriedigen können. Der Unterricht der Grundschule wird sich daher stark verändern müssen. Naturwissenschaften, Technik, Fremdsprachen – das alles haben wir weit hinausgeschoben. Jetzt wissen wir, Kinder sind schon sehr früh lernbegierig. Sie lernen eine Fremdsprache umso leichter, je früher sie beginnen können – schon in der Grundschule.
Nennen Sie uns ein Beispiel für attraktiven Unterricht.
Das neue Konzept von Mathematik zum Beispiel. Wir arbeiten da nicht nur mit Zahlenkolonnen oder zielen auf Gedächtnisleistungen. Die Kinder lernen viel besser in Beispielen und Geschichten. Das ist gar nicht spektakulär. Wir müssen Schülern das Signal geben: Lernen ist spannend. Bisher fühlen sich Schüler quer durch alle Schulformen viel zu oft unterfordert.
Das hört sich wunderschön an, ist aber keine Antwort auf die Fragen besorgter Eltern.
Wir spekulieren jetzt nicht mehr. Wir Kultusminister können handeln. Weil wir wissen, dass großer Nachholbedarf in der Lehr- und Lernforschung besteht, dass wir eine innovative Didaktik und Methodik entwickeln müssen. Und vor allem, dass die Hochschulen ein stärkeres Interesse an einer praxisorientierten Lehrerbildung haben müssen. Etwa um Lehrern später zu ermöglichen, in Lernstandsanalysen zu diagnostizieren: Wo steht denn das Kind?
Lehrforschung, Didaktik, Lehrerbildung – das ist doch seit 20 Jahren Thema, ohne dass sich etwas ändern würde.
Es stimmt ja nicht, dass wir seit 20 Jahren über Lehr- und Lernformen sprechen würden. Wir reden über das Alter von Lehrern und über die Frage, ob es diese oder jene Schulform geben soll. Die KMK hat beschlossen, sieben Handlungsfelder abzuarbeiten.
Die KMK hat schon viel beschlossen.
Dieser Beschluss führt zu ganz konkretem Handeln. Einzelne Länder haben damit bereits begonnen.
Die Nation wartet sehnsüchtig darauf.
Vielleicht müssen wir uns einen Vorwurf gefallen lassen: Hat sich die KMK zehn Jahre zu spät entschieden, an Schultests teilzunehmen? Bei uns gab es lange Auseinandersetzungen darüber, ob sich Leistung messen lässt. Andere Länder haben viel früher begonnen, ihre Schulen auf die Wirksamkeit des Lernens auszurichten.
Finnland zum Beispiel. Warum, glauben Sie, schneidet dieses Land eigentlich so exorbitant gut ab, obwohl es keine Zeugnisse und nicht dieses Rauf- und Runterstufen zwischen den Schulformen gibt wie bei uns.
Der deutsche Pisa-Forscher Jürgen Baumert hat deutlich gemacht, dass die Frage Gymnasium oder Gesamtschule nicht relevant ist. Es geht nicht darum zu sagen, es kann nur so oder nur anders gehen. Dafür schneiden unsere Gesamtschulen zu schlecht ab.
Wir sprechen nicht von der Gesamtschule, wir sprechen über gut integrierte und durchlässige Schulsysteme.
Das ist nicht der Ansatzpunkt für Veränderung. Die zentrale Frage ist, was geschieht im Unterricht und an ergänzenden Lernimpulsen. Die alten Kämpfe, die der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts, sind vorüber.
Mag sein. Die Forscher stellen nun fest, dass unsere Kindergärten schlecht und teuer sind. Viele Migrantenfamilien etwa lassen ihre Kinder gleich zu Hause. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Auslieferung ans soziale Milieu sehr stark ist.
Der Elementarbereich ist in Deutschland unterbewertet, das ist richtig. Wir investieren bisher ungleich mehr in die Sekundarstufe zwei, also die elften bis dreizehnten Klassen. Bei der strategischen Ausrichtung der Bildungsausgaben werden wir die Priorität künftig stärker in die ganz frühen Jahre legen müssen. In Baden-Württemberg tun wir das bereits. Wir waren die ersten, die das Recht auf einen Kindergartenplatz umgesetzt haben. Der Kindergarten, der um zwölf Uhr endet, gehört bei uns der Vergangenheit an. Weil wir wissen, dass im Blick auf die Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf andere Zeiten nötig sind.
Sie bieten also jedem dreijährigen Kind einen Kindergartenplatz von neun bis drei Uhr an?
Unsere Kindergärten haben sehr verschiedene Angebote, die von den Eltern entsprechend ihrem Bedarf gewählt werden. Wir geben nicht die Lösung für alle vor. Sondern gestaffelt und bis weit über 15 Uhr hinaus. Wir brauchen, und das zeigt Pisa auch für die Schule, ergänzende und sehr differenzierte Angebote.
Besonders bei Migrantenkindern und Kindern aus sozial schwachen Familien greifen aber die Bildungsprogramme nicht. Was wollen Sie dagegen unternehmen?
Wir brauchen auch ergänzende Impulse für SchülerInnen, die außerhalb der Schule keine Angebote bekommen. Bis hin zu Ferienangeboten, Lernkursen und Sommerakademien. Da hat Pisa uns aus manchen anderen Ländern Anregungen gegeben.
Wie kann Sprachförderung im Kindergarten aussehen?
Die beginnt da, wo wir Eltern von Migrantenkindern überzeugen müssen, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken. Das bedeutet aber auch, dass Kinder, die sich sprachlich schwer tun, schon vor der Einschulung in internationale Klassen gehen müssen. Erst wenn sie einen normalen Umgang mit der Sprache haben, darf man sie in die Schule schicken. Um das Sprachniveau aber wirklich weiterentwickeln zu können, kommen wir ohne die Eltern nicht weiter – Wissenschaftler nennen das heute family education, Partnerschaft zwischen Schule und Eltern.
Wie wollen Sie solche Programme finanzieren? Lernanreize oder Feriencamps zur Förderung lernschwacher Schüler kosten viel Geld.
Das ist richtig. Deswegen wird das Bildungswesen in den nächsten zehn Jahren nicht geeignet sein, um an Einsparungen zu denken. Wir brauchen die strategische Ausrichtung der öffentlichen Haushalte an Bildung, Wissenschaft und Forschung. Wir hätten übrigens einen enormen Fortschritt, wenn sich alle Bundesländer an denen ausrichten, die jetzt an der Spitze der Bildungsausgaben liegen.
Die Finanzminister sagen aber, es werde für Bildung nicht mehr Geld geben, weil die Schülerzahlen zurückgehen.
Es ist doch klar, dass in einem Land, in dem die Schülerzahlen um 60 Prozent zurückgehen, auch die Ressourcen zurückgefahren werden können. Unterricht wird ohnehin nicht einfach besser, weil mehr Geld da ist. Sicherlich muss aber auch umgeschichtet werden.
Indem Sie von Ihrer Begabtenförderung ablassen?
Nein. Die Studie zeigt, dass wir oben und unten gleichzeitig fördern müssen.
Weil unser Schulsystem weder die guten noch die schlechten Schüler angemessen fördert. Was tut Ihnen mehr weh?
Beides tut weh. Weil es bedeutet, dass Schüler unterfordert werden und hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben. In Deutschland war ja die Grundstimmung lange Zeit so, nicht auf Lernen und Leistung zu setzen, sondern mit vielen Worten und mit vielen Theorien zu erklären, dass Schule die Kindheit zerstören könne. Ich glaube, das ist jetzt vorbei – über die Parteigrenzen hinweg. Gott sei Dank.
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