„Die Einzigartigkeit nicht absolut setzen“

Die Diskussion um die Forschung zum Holocaust dauert an: Darf der Mord an den europäischen Juden mit anderen Massenverbrechen verglichen werden? Und: Wie weit darf die Musealisierung der Shoah gehen? Schließlich: Wie geht man mit der Schuld der Kollaborateure um? Zur Debatte ein Interview mit Ruth B. Birn, Chefhistorikerin der kanadischen Regierung

von CHRISTIAN SEMLER

Taz: Frau Birn, Sie sind Chefhistorikerin der kanadischen Regierung. Was für ein Job ist das?

Ruth Bettina Birn: Ich arbeite in einer Abteilung des Justizministeriums, die sich mit der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschäftigt. Kanadisches Recht funktioniert eigentlich nach dem Territorialprinzip: Strafverfolgung nur für Taten, die in Beziehung zu Kanada stehen. 1987 wurde aber bei uns Kanada ein Gesetz verabschiedet, nach dem auch die schweren Verbrechen verfolgt werden können. Bemerkenswert daran ist, dass sich dieses Gesetz nicht nur auf Nazi-Verbrechen bezieht, sondern für alle Täter gilt, unabhängig vom Hintergrund der Tat. Die USA und Australien beispielsweise haben sich auf die Nazis beschränkt.

Was war der Grund für diese weitere Fassung?

Die kanadische Rechtskultur betont den universellen Aspekt. Das Land gehört auch zu den stärksten Befürwortern des internationalen Strafgerichtshofs – im Gegensatz zu den USA, die ihn mit allen Mitteln hintertreiben wollen.

Warum beurteilen Sie die These von der Einzigartigkeit des deutschen Massenmords an den Juden, der uniqueness des Verbrechens, kritisch?

Meine Kritik richtet sich gegen die Tendenz, diese Einzigartigkeit absolut zu setzen. In den Siebziger- und Achtzigerjahren habe ich mich dagegen gewandt, dass in Deutschland auf die Erwähnung des Holocaust sofort das „Aber“ folgte: Aber die Russen, aber Dresden. . . Das musste und muss man tun. Wenn aber in der Öffentlichkeit die These geäußert wird, dieses oder jenes Massenverbrechen unserer Tage reiche nicht an den Judenmord heran, dann habe ich damit meine Schwierigkeiten. Ich denke, man muss aus dem Holocaust lernen, und man muss Maßstäbe gewinnen für die späteren Untaten. Das geht nur durch beständigen Vergleich.

Weshalb besteht ein Widerspruch zwischen der Erkenntnis, dass der Holocaust einzigartige Züge aufweist, und einer Verfolgung heutiger Verbrechen gegen die Menschlichkeit?

Jedes historische Ereignis ist einzig und doch mit anderen Ereignissen vergleichbar. Ich habe in den letzten Jahren den Eindruck gewonnen, dass vor allem in den USA zur Vergleichbarkeit ein Denkverbot verhängt worden ist – mit praktischen Konsequenzen.

Ein Denkverbot – inwiefern?

Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Professor John Roth, ein Spezialist für die Erforschung des Holocaust, hatte aus seinen Studien moralische und politische Konsequenzen gezogen. Das kann dazu führen, auch gegen die Politik der USA zu protestieren. Roth zog öffentlich Lehren, indem er verglich. Daraufhin verhinderte eine Koalition rechter jüdischer und nichtjüdischer Organisationen, dass er auf einen führenden Posten des Washingtoner Holocaustmuseums berufen wurde. Ihm wurde vorgeworfen, er habe Hitler mit Reagan, die USA mit Nazideutschland verglichen, sei also ein uniqueness-Leugner und außerdem unamerikanisch.

Sie wenden sich gegen Auffassungen, wonach die den Nürnberger Prozessen zugrunde liegenden Prinzipien nicht auf gegenwärtige Menschheitsverbrechen übertragen werden dürften, weil sie die Antwort auf den einzigartigen Tatbestand des Judenmords gewesen seien. Gibt es denn überhaupt Kräfte, die das behaupten?

Beispielsweise hat ein Sprecher des israelischen Außenministeriums die These vertreten, Nürnberg, das war nur für die Nazis. Diese Äußerung geschah im Zusammenhang mit den Bestrebungen, Ariel Scharon in Belgien, das auch ein dem kanadischen vergleichbares Gesetz zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat, anzuklagen. Aber jede Fortentwicklung des internationalen Rechts basiert auf den Grundlagen der Nürnberger Prozesse.

Sie sprechen in Bezug auf die USA davon, dass der Holocaust dort als ein Element der Staatsideologie funktioniere. Wieso Staat? Wieso Ideologie?

Führende Politiker der USA, beispielsweise der frühere Präsident Clinton, benutzten die Tatsache, dass die USA vor einem halben Jahrhundert auf der richtigen Seite standen, dazu, Kontinuitätslinien zu ziehen und Legitimität für ihre Politik zu gewinnen. Also: Wir standen auf der Seite der verfolgten Juden, wie wir immer auf der Seite der Unterdrückten und Schwachen stehen. Nichts dagegen, wenn aus dem Engagement der USA im Zweiten Weltkrieg nachträglich ein moralischer Maßstab entwickelt wird. Wenn aber mit Hinweis auf „damals“ eine Selbstkritik der Fehler und Verbrechen amerikanischer Politik in diesem Jahrhundert ausgeblendet wird, dann ist die ideologische Funktion offensichtlich.

Sind Sie der Meinung, die Erinnerung an den Judenmord sei nur dann legitim, wenn sie stets die an die nichtjüdischen Opfer des Holocaust und an die Opfer anderer Völker- und Massenmorde einschließt?

Verschiedentlich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es zwar in Washington das Holocaustmuseum gebe, aber kein Museum, in dem die „Altlasten“ der amerikanischen Geschichte aufgearbeitet werden würden. Wir hatten auch in Kanada eine Diskussion um die Errichtung eines Holocaustmuseums. In dieser Diskussion wurde geltend gemacht, dass Kanada eigentlich keinen wesentlichen Anteil am Komplex der Judenverfolgung gehabt hat. Und dass außerdem – eine Folge der sehr politisch korrekten kanadischen Nationalitätenpolitik – neben der jüdischen auch anderen Einwanderergemeinden Gelegenheit gegeben werden müsse, das ihnen widerfahrene Leid zu dokumentieren. Zu welchen Konsequenzen, etwa im Verhältnis der türkischen zur armenischen Gemeinde, das geführt hätte, liegt auf der Hand. Ich glaube, Museen wie die, die dem Holocaust gewidmet sind, sollten ihren Schwerpunkt am Ort der Judenverfolgungen haben, am historischen Ort, im historischen Kontext. Das projektierte Museum „Topographie des Terrors“ am Ort des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin scheint mir hier eine besonders gute Wahl zu sein.

Wie würden Sie, wenn Sie Geschichtslehrerin in Deutschland wären, einem Schulkind türkischer Herkunft die Pflicht zur Erinnerung an die Naziverbrechen klar machen?

Schwierig. Auf der Ebene von Plattitüden ist dieses Problem natürlich lösbar, aber was bringt das? In Kanada, einem typischen Einwanderungsland, hat es gerade unter den neuen Einwanderungsgruppen Proteste dagegen gegeben, den Holocaust, nicht aber andere Geschichten von Verfolgung und Mord ins Curriculum aufzunehmen.

Welches Ergebnis hatte der Streit?

Der Canadian Jewish Congress schaltete einen Rechtsanwalt ein – eine nicht gerade vermittelnde Position.

Wie muss man sich als deutscher Historiker verhalten, wenn man sich mit Fehlern und Schwächen der Völker unter Nazibesatzung auseinander setzt, zum Beispiel mit dem Problem der Kollaboration? Ich frage Sie das nicht als Kanadierin, sondern als Immigrantin aus Deutschland.

Ich schreibe an einem Buch über die deutsche Sicherheitspolizei in Estland 1941 bis 1945, wobei ich beide Seiten, die estnische und die deutsche, untersuche. Die deutsche Besatzung hat sich durch die Verbrechen der sowjetischen Besatzung 1939 bis 1941 legitimiert, wie die anschließende sowjetische Besatzung sich durch die Verbrechen der NS-Besatzer rechtfertigte. Bis vor kurzem hatten junge Esten kein Handwerkszeug, mit diesen Instrumentalisierungen fertig zu werden. Ich komme nicht mit dem moralischen Zeigefinger, wie manche Kollegen aus den USA, die den Esten sagen: „Ihr habt die Eierschalen des Faschismus noch nicht abgestreift, bekennt euch endlich zu eurer Schuld.“ Man muss diesen Komplex Schicht für Schicht abtragen. Da kann es dann zu einem Umzug ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS kommen. Die Leute reagieren auf Kritik sehr empfindlich. Sie sagen: Man hat uns über fünfzig Jahre vorgekaut, was wir zu denken haben, jetzt müssen wir die Grenze zwischen Meinungsäußerung und faschistischer Propaganda selbst herausfinden.

Man muss nicht alles ausprobieren.

Ich habe, vor allem in Gesprächen mit jungen Leuten, die Erfahrung gemacht, dass man zu vernünftigen Ergebnissen kommt, wenn man sich auf alle Windungen und Wendungen dieser Geschichte wirklich einlässt.

Also Respekt vor der Chance, sich mit der eigenen Vergangenheit selbstverantwortlich zu konfrontieren?

Natürlich versuche ich, mir bekannte junge estnische Kollegen auf den Forschungsstand zu bringen. Aber ich moralisiere nicht. Sie müssen sich die Gründe, warum es in solchem Umfang zur Kollaboration kam, selbst erklären. Tatsächlich ist der nichtdeutsche Anteil bei den Naziverbrechen in der Sowjetunion sehr hoch. Mir kam das zum ersten Mal Anfang der Neunzigerjahre zu Bewusstsein, als ich ein Lager nördlich von Baranowice (im heut. Weißrussland, d. Red.) besichtigte. In diesem gab es einen einzigen Deutschen – den Lagerleiter. Alles andere besorgten Hilfskräfte. Die Klischees helfen nicht. Auf der einen Seite das Entschuldigungsklischee: Wir mussten mitmachen. Auf der anderen Seite das pauschale Verurteilungsklischee, das seitens der sowjetischen Organe nach 1945 erhoben wurde.

Und welchen Schluss ziehen Sie?

Mir scheint bedeutsam, dass in Estland viele ehemalige Angehörige der Sicherheitspolizei dieser Länder, vor allem aus den Kommunismusreferaten, sich den deutschen Besatzern zur Verfügung stellten. Für den Sommer und Herbst 1941, also den Beginn der deutschen Besatzung, lässt sich festhalten, dass es bei diesen Polizisten Übereinstimmung gab, was die Verfolgung der Kommunisten anlangte, nicht aber hinsichtlich der Verfolgung von nichtkommunistischen Juden.

Aber es gab gegen die Juden den Generalverdacht, sie hätten die sowjetischen Besatzer 1939–1941 unterstützt?

So generell kann man das in Bezug auf Estland nicht sagen. Die estnische Polizei stellt zum Beispiel einer jüdischen Ladenbesitzerin ein positives, „patriotisches“ Zeugnis aus, für die deutsche Sicherheitspolizei reicht es, dass sie Jüdin ist. Umgekehrt versuchen die estnischen Organe unter deutscher Besatzung scharf gegen die russische Minderheit vorzugehen, was die Deutschen nicht mitmachen. Hier spielen ökonomische Gründe eine Rolle. Im Lauf des Krieges setzt sich selbstverständlich die deutsche Sichtweise durch.

Sie nehmen eine sehr kritische Haltung gegenüber dem amerikanischen Politikwissenschaftler Jan Tomas Gross ein, der in einem kürzlich erschienenen Werk die Ermordung der jüdischen Bevölkerung des ostpolnischen Städtchens Jedwabne durch ihre polnischen Mitbürger im Jahr 1941 beschrieben hat. Er betonte die Eigenverantwortlichkeit der polnischen Täter. Entspricht Ihrer Meinung nach die Darstellung Gross’ nicht den historischen Fakten?

Ich sehe jede Menge von Fehlern und Irrtümern. Zum Beispiel: Gross zitiert ein jüdisches Zeugnis aus der Zeit unmittelbar nach 1945, in dem sich eigene Beobachtung und Hörensagen vermischen. Anschließend sagt er, man müsse zunächst einmal davon ausgehen, dass solche Aussagen der Wahrheit entsprächen: methodisch absurd.

Sagt Gross nicht, es gäbe keinen vernünftigen Grund, warum überlebende Juden nach 1945 nicht die Wahrheit hätten sagen sollen?

Niemand bestreitet den guten Willen dieses Zeitzeugen. Er wollte einen Überblick über die mörderischen Ereignisse geben, unterschied aber nicht zwischen eigener Beobachtung und fremden Mitteilungen. Gross hätte das tun müssen.

Würden Sie bestreiten, dass die Juden Jedwabnes von ihren polnischen Mitbürgern ermordet wurden?

Nicht die Tatsache des Mordes an der jüdischen Bevölkerung Jedwabnes steht in Frage, sondern die Behauptung, die christliche Bevölkerung Jedwabnes sei über die jüdische hergefallen und habe sie umgebracht. Es geht um die Rolle der Deutschen bei diesem Verbrechen.

Legt nicht der bisherige Stand der Ermittlungen nahe, dass den Deutschen bei dem Mord nur eine inspirierende Rolle zugekommen ist?

Unbestritten ist die Kette von Pogromen, die es von Galizien bis in den Norden Polens nach dem Einmarsch der Deutschen gegeben hat. Auch dass den Nazis diese Pogrome willkommen waren. Dennoch legen die von Gross selbst erwähnten Details nahe, dass die Deutschen, wenn sie anwesend waren, sich nicht mit der Rolle von Beobachtern begnügten.

Beeindruckt es Sie nicht, dass die Historiker des polnischen Instituts für nationales Gedenken bisher im Wesentlichen zu den gleichen Ergebnissen kommen wie Jan Tomas Gross?

Das sehe ich nicht so. Das Institut nimmt auf der Basis von Anschuldigungen seine Arbeit auf. Das ist die Basis der Ermittlungen. Ich plädiere dafür, jetzt das Endergebnis dieser Arbeit abzuwarten. Vor den Historikern des Instituts habe ich große Achtung, sie haben bewiesen, dass sie sich ohne jegliche nationalistische Scheuklappen der polnischen Geschichte stellen. Natürlich werden wir auch ihre Ergebnisse kritisch zu analysieren haben.

Was irritiert Sie an der amerikanischen Diskussion des Buches von Gross am stärksten?

Die ungeheure Emotionalität und Vorgefasstheit des Urteils. Man spricht dort von Jedwabne-Leugnung, wodurch Gross widersprechende Deutungen in die Nähe des Holocaust-Denial, mithin eines Straftatbestandes, gerückt werden. Wenn wir nicht die vollständigen Ergebnisse abwarten, dann geht der Schuss nach hinten los. Jede Aufklärungsarbeit basiert auf gesicherten Ergebnissen, auf der Wahrheit, so gut wir sie erforschen können.

CHRISTIAN SEMLER, Jahrgang 1938, taz-Autor seit 1989, hat Ruth B. Birn am Rande einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung sprechen können