piwik no script img

Ab- und tiefgründig

■ Ein Kammerspiele-Abend mit Echo: Ulrich Tukur singt „Lieder am Abgrund“

Goebbels grübelt über Fanfaren und den müden Führer, Irmgard und Alfred setzen ihren Ehestreit zwischen Front und Heimat eben per Post fort, und Michael Degen muss einen Moment fürchten, dass die russischen Befreier auch nicht besser sind, als die Nazis es waren: Gut, dass es zwischen den Dokumenten der inneren und äußeren Zerstörung Deutschlands die Lieder am Abgrund gibt. Ulrich Tukur singt von der Erinnerung an den Flieder, an Zuhause, an Küsse im Dunkeln und bittet „Rosmarie, vergiss' mich nie!“

Ganz leise kommt die Nacht aus weiter Ferne lautet der Untertitel des Abends der Kammerspiel-Ulrichs Waller und Tukur, das noch bis Ende Dezember in den Kammerspielen zu erleben ist. Und wie in alten Zeiten, als Tukur Hamburg nicht besuchte, sondern bewohnte, ist den beiden wieder einmal etwas Besonderes gelungen: ein Programm, das einem alten Thema die ihm gebührende Zeitlosigkeit verleiht.

Dabei hatte der Abend mit Entschuldigungen begonnen: Waller entschuldigt das Baustellen-Theater, das eine Idee des Vermieters, nicht der Betreiber ist. Und er erklärt, Tukur habe Grippe, wolle aber trotzdem unbedingt auftreten. Und das ist denn auch nicht zu überhören. Während der ersten Lieder klingt Tukur mühsam und angestrengt. Aber irgendwann hat er sich eingesungen, ist eingetaucht in die Zeit am Abgrund.

Und man wird still bei den Tagebucheintragungen, Briefen und später aufgeschriebenen Erinnerungen von Menschen, die in einer apokalyptischen Zeit lebten, die ihre Verwandten, Hoffnung, Unschuld, Leben verloren. Und zwischen den Texten erzählen kleine, feine Lieder der 30er und 40er Jahre von dem verzweifelten Willen zur Hoffnung. Aber die Lieder sind auch Pausen, in denen die Texte nachhallen können, man Auftauchen kann aus den Ungeheuerlichkeiten, dankbar, etwas über Liebe und von Lili Marleen zu hören.

Besonders eindrucksvoll ist die Geschichte von Coco Schumann, dem berühmten Swing-Gitarristen, der im Konzentrationslager Theresienstadt und in Ausschwitz sein Leben rettet, indem er bei den „Ghettoswingers“ mitspielt, auch morgens, zum Appell der Gestapo. „Wir machten Musik in der Hölle“, schreibt er. Tukur nimmt sein Ackordeon. Er und die anderen Musiker spielen sehr leise ein „La Paloma.“ Es klingt wie ein Echo seiner selbst. Nach Schatten.

Sandra Wilsdorf

Weitere Vorstellungen heute und morgen, 11. bis 13. sowie 18. bis 20. Dezember

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen