intershop: WLADIMIR KAMINER über Pfusch am Bau
Seid wachsam!
„Die Kader entscheiden alles“, pflegte der sowjetische Führer Josef Stalin zu sagen und entließ jedes Jahr fristlos die Hälfte seines Apparates. Gleichzeitig hieß es, dass man in der Sowjetunion für jeden Bürger eine sinnvolle Beschäftigung finde. Trotz vieler Entlassungen gab es im Sozialismus keine Arbeitslosigkeit. Die Abgesetzten waren schnell umgeschult und verschwanden auf sibirischen Großbaustellen. Obwohl Stalin der Personalfrage so viel Aufmerksamkeit widmete, scheiterte sein Unternehmen dramatisch am unfähigen Personal. Die Kommunisten wurden mit der Zeit immer schwammiger, konnten sich gegen den Westen nicht halten und gaben mehr und mehr nach. Die Kader waren es, die Stalins Eroberungen verpfuschten.
Aber auch im Kapitalismus ist die Personalfrage von großer Bedeutung. Der amerikanische Topmanager Jack Welch, der zwanzig Jahre lang General Electric leitete und mit dem Spruch „Die Menschen sind unser wichtigstes Kapital“ berühmt wurde, entließ jedes Jahr 10 Prozent aller Manager, um sich mit frischen Arbeitnehmern einzudecken.
Und auch der Daimler-Chrysler-Chef Schremp vertraut seinen leitenden Kadern nicht: „Die wichtigsten Informationen bekomme ich von den Betriebsräten“, gestand er. Fast alle führenden Kapitalisten klagen, wie schwer es ist, qualifiziertes Personal zu finden. Und die Konsumenten jammern, dass bei jeder Dienstleistung geschlampt wird und jede Ware nicht nur metaphysische Mucken, sondern vor allem technologische Macken hat. Niemand und nichts ist perfekt.
Normalerweise wird das alltägliche berufliche Versagen deswegen von der Mehrheit mit Nachsicht betrachtet. Wenn ein Schauspieler auf der Bühne seinen Text vergisst oder der Friseur aus Versehen jemandem ins Ohrläppchen schneidet, werden die Leute nicht gleich böse. Wenn aber großer Pfusch passiert und dabei Menschen sterben, bricht das Geschrei los.
Wie vor kurzem in Mailand, als zwei Passagierflugzeuge zusammenkrachten, nur weil die dafür zuständigen Ingenieure die Radarüberwachung nicht rechtzeitig repariert hatten.
Oder neulich in der Ukraine, als keiner glauben wollte, dass es tatsächlich eine ukrainische C-200-Rakete war, die ein russisches Passagierflugzeug vom Himmel geholt hatte – aus Versehen. Die dafür verantwortlichen Offiziere behaupteten, der Wind wäre Schuld gewesen. Wird dieser Zwischenfall irgendwie die außenpolitischen Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland auf längere Sicht belasten? Wahrscheinlich nicht. Der ukrainische Verteidigungsminister entschuldigte sich in aller Öffentlichkeit vor dem ukrainischen Präsident, dem ukrainischen Senat, dem ukrainischen Volk und vor dem Rest der Welt. Der Leiter der Raketenabwehrtrat zurück, ebenso sein Stellvertreter. Und die Passagiere, die gar keine Ukrainer waren und nur zufällig gerade dort flogen, wo der starke ukrainische Wind wehte . . . Sie sind nun alle tot.
Aber nicht nur die hochbezahlten Spezialisten verursachen tödlichen Pfusch, selbst die für einen Hungerlohn ackernden Hilfskräfte lösen mitunter Katastrophen aus. So kam es im August im Krankenhaus einer russischen Kreisstadt zu mehreren mysteriösen Todesfällen unter den Patienten einer Reha-Station – mit ganz unterschiedlichen Diagnosen. In der Stadt breiteten sich böse Gerüchte aus. Es war von jüdischer Sabotage und tschetschenischem Terror die Rede. Durch aufwendige Ermittlungen fand eine polizeiliche Sonderkommission jedoch heraus, dass die Putzfrau daran schuld war: Jedesmal, wenn sie auf der Station sauber machte, schaltete sie alle lebenserhaltenden Geräte ab, um ihren Staubsauger anzuschließen. Zu ihrer Verteidigung erklärte sie: „Was sollte ich denn machen, es gibt da nur eine Steckdose!“
Man kann gar nicht umsichtig genug sein. An jeder Ecke wartet der Pfusch auf einen. Die DDR-Regierung ließ deswegen Republik auf und ab Mahnmäler aufstellen, mit der an die Bürger gerichteten Aufforderung „Seid wachsam!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen